Hat er ihn oder nicht? 9,84 Sekunden soll Alex Wilson bei einem kleinen Meeting in Atlanta, USA, über 100 Meter gelaufen sein – das wäre nicht nur ein unfassbarer Sprung für ihn (persönliche Bestzeit 10,08), sondern auch Europarekord. Doch nicht nur diese Zeit ist umstritten, es tauchte auch ein Video auf, das Wilson mit einem wegen Dopingvergehens gesperrten Trainer zeigt. Das seien nur ein paar Tipps gewesen, er habe den Trainer nicht gekannt, verteidigt sich der 30-Jährige, auf den Wirbel angesprochen. So kurz vor Olympia will und wird er sich nicht ablenken lassen.
Alex Wilson liefert Gesprächsstoff, seit er die Schweiz mit seinen ungefilterten Interviews nach den Rennen unterhält: sympathisch, erfrischend oder vorlaut – kalt lässt er niemanden. Und klar ist, dass er den Schweizer Sprint auf ein neues Level gehoben hat. Als er im Dezember 2005 in Basel ankommt, ahnt das noch niemand. Seine Mutter war schon ein paar Jahre zuvor für die Liebe in die Schweiz gezogen, er hatte während dieser Zeit bei seiner Tante auf Jamaika gelebt. Seinen Vater hat er nie kennengelernt.
Mit den Flip Flops zur Landschaftsgärtnerlehre
Die erste Zeit in der neuen Heimat ist hart für den 15-Jährigen. Alles ist neu: die Sprache, die Kälte. Und so dauert es, bis das Heimweh nachlässt. Die Leichtathletik hilft ihm dabei: Auf Empfehlung der Schule tritt er dem Basler Traditionsverein Old Boys bei. Und das Stadion Schützenmatte wird schnell zu seinem zweiten Wohnzimmer. Er findet nicht nur Gefallen am Sprint und seiner Begabung dafür, sondern auch Menschen, die zu Mentoren werden. Sie begleiten ihn auch abseits der Tartanbahn, zeigen ihm, wie er mit Geld umzugehen hat, oder verhelfen ihm zu einer Anlehre als Landschaftsgärtner. An seinem ersten Tag taucht er in Flipflops auf und wird flugs wieder zum Umziehen nach Hause geschickt. Solche Anekdoten gibt es viele, doch alle Menschen, denen Wilson auf seinem Weg begegnet, schliessen ihn in ihr Herz.
Früh fällt er durch seine grosse Klappe auf: er wolle Meisterschaftsmedaillen holen und unter zehn Sekunden laufen. Doch die wenigsten trauen ihm das wirklich zu. Wilson mag das Wort «Schnurri» nicht, es ist ihm zu negativ, aber er mag es, auf Leute zuzugehen, ist offen und kommunikativ. So erzählt er gern, dass die Schlitten rasch ausverkauft waren, als er als Jugendlicher mal ein Jahr lang bei der Migros als Verkäufer gearbeitet hat. Im Training ruft er gern aus, wenn es zu streng wird.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Als er 2016 die Teilnahme an den Olympischen Spielen um eine Hundertstelsekunde verpasst, begibt er sich nach London, um unter Lloyd Cowan zu trainieren. Und muss dort zuerst mal zehn Kilo abnehmen. Cowan bringt Wilson mit strengem Training nicht nur entscheidend weiter, er wird zu einer Vaterfigur.
Verlust des geliebten und geschätzten Trainers
2018 holt Alex mit EM-Bronze in seiner Paradedisziplin 200 Meter seine langersehnte internationale Medaille – das harte Beweisstück, dass er mehr als ein Schnurri ist. Als Cowan im Januar 2021 an Corona stirbt, ist Wilson zutiefst erschüttert.
Trost findet er bei seiner Familie, seiner Ehefrau, den zwei Söhnen und der Tochter. Er hat ein Haus in Frankreich nahe Basel gekauft und renoviert. Die Familie gibt ihm Ruhe, Motivation, einen Sinn. Und so hadert er im Corona-Jahr 2020 nicht mit abgesagten Rennen, sondern lässt seine Leistenbrüche operieren und nutzt die Zwangspause, um viel Zeit mit der Familie zu verbringen, den Garten anzupflanzen und gut zu kochen. Er lässt seinem Körper so viel Zeit, wie er braucht, um sich vollständig zu erholen, und macht dann einen sauberen Aufbau für die Olympiasaison. In Tokio hat er grosse Pläne, natürlich. Ist er tatsächlich in der Form seines Lebens, rennt er um Medaillen mit. Wenn nicht, wirds schwierig – aber bestimmt nicht langweilig. Alex Wilson bleibt Alex Wilson.