Im Winter 1989/90 weilte ich in Haiti, dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre. Gerade fanden die ersten demokratischen Wahlen seit über 30 Jahren statt. Viele Menschen kehrten dafür aus dem Exil zurück – voller Hoffnung, weil die Diktatur endlich vorbei war. Ein 50-Jähriger sagte mir gerührt, es sei das erste Mal in seinem Leben, dass er seine Stimme abgeben dürfe.
Das erinnerte mich an meine Mutter: Wir – ich damals 20-jährig, sie mit 55 – gingen zusammen zum ersten Mal an die Urne, um das eben eingeführte kantonale Frauenstimmrecht auszuüben. Beide Male empfand ich es als ungerecht, jemandem ein Menschenrecht – die Beteiligung an einem Volksbeschluss – zu verwehren.
Historische Wahl: Statt der offiziellen SP-Kandidatin Christiane Brunner (r.) wird am 3. März 1993 SP-Mann Francis Matthey in den Bundesrat gewählt. Nach Grossdemonstrationen mit Tausenden Frauen verzichtet der Neuenburger Nationalrat – zugunsten der Genfer Gewerkschafterin Ruth Dreifuss. Sie wird am 10. März 1993 Bundesrätin und 1999 Bundespräsidentin – die erste überhaupt. Auch nach ihrem Rücktritt 2002 setzt die bald 81-Jährige für Menschenrechte ein.
Schon 1959, als es um die Abstimmung über das Frauenstimmrecht ging, waren die Plakate und Argumente der Gegner so beleidigend, so erniedrigend, dass ich mich als Jugendliche voll für das Ja engagierte. Bis 1971 betrachtete ich es als die wichtigste Aufgabe der feministischen Bewegung. Viele fanden, dass Frauen noch beweisen sollten, dass sie das Stimm- und Wahlrecht verdienten und sie ihm auch gewachsen waren. Als wäre es ein Privileg!
In jenen Jahren wandelte sich die Gesellschaft in vielen Bereichen: Die Legitimität von traditionellen Regeln und Hierarchien wurde hinterfragt. Der Kampf für das Wahl- und Stimmrecht der Frauen war Teil dieses Mentalitätsumbruchs. Es ging nicht mehr nur um die Realisierung eines Menschenrechts, sondern um die Eroberung der politischen Instrumente, die notwendig sind, um die alltäglichen Diskriminierungen der Frauen zu beseitigen: im Ehe- und Scheidungsrecht, bei der Lohnungleichheit, bei der freien Berufswahl, in der Sozialversicherung usw.
Ich hatte dann das Glück, als Gewerkschafterin und später als Bundesrätin zusammen mit den ersten Parlamentarierinnen und der neuen Frauenbewegung anzufangen, die Diskriminierungen zu beseitigen. Ein langer Kampf. Heute geht es darum, für Männer und Frauen eine Welt zu schaffen, aus der Gewalt verbannt ist und in der alle ihre Lebensprojekte realisieren können, frei von überholten Rollenmodellen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten.