Jeden Morgen geht Hans-Rudolf Merz (80) im Dorf einkaufen. Danach setzt er sich in den Ledersessel in seinem Wohnzimmer und liest: Von Gotthelfs «Kleinen Erzählungen» über Militärexperte Bruno Lezzis Buch «Von Feld zu Feld» bis zu Karl Mays «Winnetou».
Seit dem Tod seiner Frau Roswitha vor sieben Jahren lebt der alt Bundesrat alleine in seinem dreistöckigen Betonhaus oberhalb von Herisau AR. Immer wieder schweift sein Blick aus dem Fenster auf die Appenzeller Berglandschaft. «Solange ich die Aussicht vom Bodensee bis zum Tödi geniessen kann, bringt man mich hier nur im ‹Kistli› raus.»
Fünf Bypässe
Fast 15 Jahre ist es her, seit der FDP-Politiker zusammengebrochen ist. Am 20. September 2008 informiert die Direktion der Nationalbank und die Eidgenössische Bankenkommission den damaligen Finanzminister, dass die UBS bis zu 70 Milliarden Franken benötigt. «Mir war klar: Es geht nicht ohne Staatshilfe», sagt Merz, der aus «ordnungspolitischen Gründen» davor stets gegen eine Rettung der UBS war.
Der Bundesrat erleidet einen Herzstillstand und bekommt fünf Bypässe gelegt. «Zum Glück war ich schnell wieder fit und konnte den ganzen Prozess fertig abwickeln.» Zudem habe er Hand geboten für ein Konjunkturprogramm. «Man befürchtete, dass der Finanzplatz und die Schweizer Wirtschaft leiden. Heute muss man sagen: Wir sind gut weggekommen.»
Herr Merz, nach der UBS- Rettung 2008 war der Tenor klar: So ein Fall darf nicht mehr passieren. Dafür haben Sie als Finanzminister die «Too big to fail»- Strategie mit strikteren Kapitalregeln auf den Weg geschickt. 15 Jahre später muss der Bund mit der CS wieder eine Bank retten!
Es ist etwas Ähnliches passiert, aber es gibt Unterschiede. Die UBS kam nach dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers und hoch riskantem Wirtschaften in einen Liqui-ditätsengpass. Bei der CS war das Problem nicht die Liquidität, sondern das geschädigte Vertrauen. Dieses wurde durch zwei, drei grössere Verschneider ausgelöst. Wir wohnen hier in einem Gebiet von Nagelfluh (zeigt aus dem Fenster). Wenn Sie aus dem Geröll einen Stein herausreissen, weiss man nicht, was noch alles nachkommt. Bei der CS war das eine Nagelfluhsituation.
Dann war die «Too big to fail»-Strategie umsonst?
Nein! «Too big to fail» ist nicht einfach ein Papier, das irgendwo in einer Schublade liegt. Sondern ein Prozess. Dieser fing unter anderem mit der Gründung der Finanzmarktaufsicht Finma an, die ich aufgegleist habe. Und wurde vom Parlament mit neuen Gesetzen zu Finanzmarkt und Banken angepasst.
Apropos Aufsicht: Die CS lieferte in den letzten Jahren Skandal um Skandal. Die Finma hätte doch eingreifen müssen!
Die Finma hat ihr Monitoring gemacht. Sie hat, soweit ich das beurteilen kann, auch Zeichen Richtung CS gesendet. Aber diese haben offensichtlich nicht gereicht. Wenn der Teufel hockt, dann reitet er. Für mich liegt das Problem nicht bei der Finma. Sondern? Bei der Firmenkultur der Banker. Diese besteht für mich aus vier traditionellen Verhaltensregeln – übrigens das Erfolgsgeheimnis der alten Schweizerischen Bankgesellschaft.
Und diese Regeln wären?
Kenne deine Kunden. Behandle ihr Geld, wie wenn es dein eigenes wäre. Begleite die Kunden. Und lege von Anfang an fest, wo und wie das Verhältnis enden soll. Ich habe 2008 bei der UBS erlebt, wie Banker in den USA diese Regeln verletzten. Sie vergaben Hypothekarkredite an Kunden mit geringer Bonität, ohne ihnen in die Augen zu schauen. Das ärgert mich bis heute. Doch nach 2008 hat die UBS ihr Geschäftsmodell angepasst – Vermögensverwaltung statt Investmentbanking – und besann sich auf ihre alten Werte. Bei der CS hingegen haben die Investmentbanker die Regeln sträflich verletzt oder nicht befolgt. Das wird eine Herausforderung, die solide Kultur nach der Fusion wieder durchzusetzen.
Und was sagen Sie zum Anreizsystem mit den Boni?
Kommt darauf an, was man genau un- ter Boni versteht. Auch in anderen Branchen gibt es Anreize oder Verkaufsziele, bei denen man bei Erreichen einen Bonus bekommt. Das geht in Ordnung. Die volumen- oder gewinnabhängigen zusätzlichen Boni beim Bankenkader finde ich dagegen eine Unsitte par excellence.
Vor einem Jahr gibt Hans-Rudolf Merz sein letztes Amt als Präsident der Patenschaft für Berggemeinden ab. Zu Berg geht er aber weiterhin. «Zweimal pro Jahr besteige ich mit meinem Bergführerkollegen aus Pontresina einen Viertausender», erzählt Merz, der die vielen Treppen in seinem Haus mühelos rauf- und runtergeht.
Auf jeder Etage stehen geschnitzte Alpaufzüge, die Merz à fond studiert und ihnen 2019 ein Buch gewidmet hat. «Ist diese schmucke Tradition nicht faszinierend?»
«Die Behauptung, die Grossbanken seien FDP-Filz, ist absolut haltlos»
Hans-Rudolf Merz
Alt Bundesrat Christoph Blocher sagte der SI vergangene Woche, der FDP-Filz sei mitschuldig am Ende der CS.
Die Behauptung, die Grossbanken seien FDP-Filz, ist absolut haltlos. Die beiden Banken haben je zwölf Mitglieder im Verwaltungsrat, ich habe alle unter die Lupe genommen (nimmt eine mit Bleistift aufgezeichnete Liste hervor). Gerade mal 3 von den 24 Mitgliedern haben das Schweizer Bürgerrecht. Niemand ist Mitglied der FDP.
Herr Blocher bezieht sich auf den FDP-nahen Walter Kielholz, der 2009 Urs Rohner als CS-Verwaltungsrat installierte.
Auch Herr Rohner ist kein Mitglied der FDP. Dafür sind diejenigen, die diese Behauptungen aufstellen, in anderen Parteien aktiv (schmunzelt).
Neuste Umfragen zeigen: Die Bevölkerung traut den Banken nicht mehr. Bei der FDP-Wählerschaft ist der Vertrauensverlust mit 75 Prozent am grössten. Was sagen Sie dazu?
Ich nehme das sehr ernst. Die KMU, die Bürgerinnen und Bürger brauchen das Geld für ihren Lebensunterhalt und wollen nicht, dass es jemand verjubelt. Gerade in der Schweiz sind die Menschen sehr sensibel, das Geld ist ein Teil von uns. Das Misstrauen müssen jetzt alle Beteiligten spüren: Die Banken, die Berater – aber auch das Parlament und der Bundesrat.
Merz setzt sich ans Klavier und spielt eine Sonate von Mozart. Neben der Literatur ist es die Musik, die ihn heute begleitet. So besuchte er vor einer Woche die Oper in der Mailänder Scala. Er schwärmt: «Ich sah mir Puccinis ‹La Bohème› an – ein wundervolles Drama!»
«Ermottis Wahl ist ein erster hoffnungsvoller Schritt»
Hans-Rudolf Merz
Wo haben Sie Ihr Geld angelegt?
Als ehemaliger Finanzminister beantworte ich diese Frage nicht … Nur so viel: bei einer einzigen Bank. Meine Söhne wissen, wo (lacht).
Gibt es in Ausserrhoden eine CS-Filiale?
Nein, auch keine Kantonalbank. Ich war 1993 Verwaltungsratspräsident der Ausserrhoder Kantonalbank, die da bereits in Schieflage war. Am Schluss wurde sie von der heutigen UBS aufgekauft. Damals wurde viel schwarzgemalt. Dann machten die St. Galler und die Innerrhoder Kantonalbanken Filialen in Herisau auf. Raiffeisen und andere Private folgten. Und heute sagen die Leute: Wir haben viel bessere Konditionen als früher. Auch nach dem CS-Ende wird der Markt das regeln.
Trotzdem haben wir eine riesige Bank, manche sprechen von einem Monster. Macht Ihnen das keine Sorgen?
Doch, durchaus. Darum muss man das Geschehene aufarbeiten.
Ist die UBS nicht «too big to control»?
Man muss sicher diskutieren, ob die Finma künftig mehr Kompetenzen bekommen soll, etwa, ob sie Strafen verhängen kann. Und ob das Monitoring ausgebaut werden muss. Die Finma wurde damals mit vier Abteilungen gegründet, heute sind es acht mit 500 Mitarbeitenden. Sie ist offensichtlich noch immer zu klein. Aber bevor man wächst, muss man wissen, warum. Und zur Grösse der Bank: Es kann ja sein, dass die UBS beschliesst, die Schweizer Einheit der CS anders zu platzieren.
Was sagen Sie zur Wahl von Sergio Ermotti als neuer alter CEO der Superbank?
Das ist ein erster hoffnungsvoller Schritt in die richtige Richtung. Krisenbewältigung verträgt keine Experimente. Um das Monopol zu sprengen, will die Linke die Postfinance zur Bank machen. Und wer haftet, wenn die Post pleitegeht? Der Steuerzahler. Bei den Kantonalbanken haftet auch der Steuerzahler.
Ist das unsere Zukunft: Banken mit Staatsgarantien?
Die Kantonalbanken zahlen ihre Risikodeckung mittels Dividenden, sie liefern also auch. Für mich geht es jetzt aber darum, dass die Volkswirtschaft und der Staat Gewinner bleiben. Unsere Wirtschaft lebt vom Import von Rohstoffen und vom Export von Spitzenprodukten. Da braucht es die Banken als Begleitung. Ob das nun die Grossbanken sind oder andere, spielt nicht so eine Rolle. Wir haben 220 Bankenhäuser verschiedenster Typologien. Wir sind also breit aufgestellt. Zudem: Es gibt kein Problem, dass die Schweiz seit 1848 nicht gelöst hätte.