60 Sekunden lang ist das Video des 21-Jährigen, das er zu Hause in Flims gedreht hat. Im Gegensatz zu seinen früheren viralen Hits, auf denen er Parcours-Kunststücke in der Turnhalle zelebriert, zeigt der Bündner sein Talent diesmal daheim.
Er springt in Mutters Stube und Küche, durch die Schlafzimmer. Über Trampoline direkt auf Medizinbälle, Balanceboards, läuft der Wand entlang, über den Fenstersims, über Stühle, jongliert im Fahren mit WC-Rollen (!) und schlägt zwei Salti, bevor er sich am Ende – mit einem Augenzwinkern – die Hände desinfiziert.
Damit erreicht er auf Social Media Millionen rund um den Planeten. Er übertrifft die Zahl der Fernsehzuschauer einer Lauberhorn-Abfahrt um über das 50-Fache. Der Fussballklub Real Madrid teilt sein Video – in knapp zehn Tagen schauen es 5,2 Millionen Menschen an, auf der Instagram-Plattform der US-Talkmasterin Ellen DeGeneres sind es 6,5 Millionen, bei der Fussballseite «433» 5,3 Millionen. Alleine auf seinem Tik-Tok-Kanal, einer Videoplattform, die vor allem Teenager lieben, sind es über 21 Millionen. Übersetzt für die ältere Generation: Das ist in etwa so, wie wenn einer weltweit die Hitparaden stürmt. Einfach mit einem Video. Andri Ragettli lächelt. Er hat sich an diese Dimensionen gewöhnt.
Viraler Hit aus dem Wohnzimmer
«Die arme Mama tat mir leid. Was ich alles aufgestellt habe!», sagt Andri. «Ihre einzige Bedingung war, dass das neue Parkett keinen Kratzer abbekommen darf. Eigentlich war zu erwarten, dass wir eine Lampe runterhauen. Aber wir habens ohne Unfall geschafft.»
Mit Bruder Gian will Andri ursprünglich ein Video zum Saisonende im Skigebiet von Laax filmen – bis das Virus alles lahmlegt. «Unsere Stunts waren lange durchgeplant. Sie hätten uns zwar auf den Berg gelassen, aber wegen der Krise waren die Einschränkungen zu gross.» Mutter Beatrice bringt ihre Söhne auf die Idee. «Sie sagte: ‹Macht doch etwas mit Quarantäne, die alle betrifft. Macht einen Parcours drinnen.› Ich war skeptisch, dann hat sie mich überredet. Sie sagte: ‹Ihr habt freie Hand.› Wäre ich zehn Jahre jünger, hätte sie es mir verboten.»
Für seine schwierigsten Parcours in der Halle braucht Andri über 200 Anläufe, bis er sie ohne Fehler ins Ziel bringt. «Diesmal waren es nur 30 Versuche. Denn für meine Verhältnisse war das einfach. Wäre ich vom Fenstersims gefallen, hätte ich es locker überlebt. Es ging nur zwei Meter in die Tiefe. Aber es ist immer eine Gratwanderung.» Diesmal ging es ihm um ein Zeichen. «Dass auch ich solidarisch bin. Und ich spende für jeden Like auf Instagram einen Cent für die Bekämpfung des Coronavirus.»
Ragettli ist am Ende eines erfolgreichen Winters. Der Freeskier gewinnt den Disziplinen-Weltcup im Slopestyle, drei Medaillen an den X Games, den prestigeträchtigsten Wettkämpfen seiner Sportart. Inklusive Gold im Slopestyle. Er ist der Akrobat des Himmels. 2017 schafft er auf einer gewaltigen Schanze einen Quad Cork 1800. Vier Salti, fünf Schrauben.
Er weiss aber, dass die Beachtung seiner sportlichen Triumphe immer derjenigen seiner Videos hinterherhinkt. «Ich kann damit leben. Wenn ich bei den X Games gewinne, ernte ich den Respekt der Athleten. Das ist ebenso schön. Hätte ich gern dieselbe Aufmerksamkeit der breiten Masse für meinen Sport wie für meine Videos? Klar. Aber Freeski ist halt immer noch eine Randsportart.»
In dieser Zeit des Stillstands ändert sich auch für Ragettli einiges. «Ich bin zu Hause. Trainiere morgens, mache nachmittags Videos, plane Dinge mit dem Manager, gebe Interviews. Die ganze Situation ist surreal. Aber ich versuche, es positiv zu sehen.» Er denkt auch an die Sportler, für die gerade Träume zerbrechen. «All die Olympioniken, die jahrelang für ein Ziel gearbeitet haben. Andere, denen eine Saison verloren geht. Ich war privilegiert, wir Wintersportler hatten Glück.»
Das Social Distancing zieht er durch. Einen Fotografen will er nicht in der Wohnung. Das Bild auf der Rolle hat Bruder Gian gemacht. Und wo war eigentlich Mutter Beatrice während des Videodrehs? Die kann nicht hinschauen. Nie. «Sie war draussen im Garten am Pflanzen und Jäten. Das ist besser für ihre Nerven.»