Diese Woche liegen Freud und Leid bei Bundespräsidentin Viola Amherd, 62, nah beieinander. Am Sonntag feiert die Walliserin mit Tausenden Traditionsbegeisterten am Eidgenössischen Trachtenfest in Zürich die Vielfalt. Am Montag trifft eine sichtlich berührte Armeechefin in ihrer Heimat Wallis und im Tessin die vom Unwetter traumatisierten Menschen. Das Ausmass der Zerstörung lässt sie leer schlucken. «Das ist hart für die Bevölkerung.» Und es erinnert die ehemalige Gemeinderätin von Brig an ihre Vergangenheit, wie sie im Interview erzählt.
Frau Bundespräsidentin, welche Bilder der vom Unwetter zerstörten Regionen sind Ihnen am meisten geblieben?
Wenn man von Überschwemmungen spricht, denkt man meistens an Wasser. Doch es war nicht das Wasser, was mir in Erinnerung geblieben ist, sondern die Massen an Geschiebe und Geröll. Das war ein furchtbarer Anblick.
Welchen Eindruck machten die Menschen vor Ort auf Sie?
Sie sind stark betroffen und machen sich grosse Sorgen über die Auswirkungen des Unwetters. Etwa, ob es weitere vermisste Menschen gibt, von denen man noch nichts weiss. Und natürlich, wie die Zukunft aussieht. Die Leute sind traumatisiert und fragen sich: Was passiert mit unseren Dörfern, mit unserer Industrie? Wo kommen die Gelder her, die man für den Wiederaufbau investieren muss? Die Emotionen der Verantwortlichen der betroffenen Gemeinden haben mich sehr berührt.
Wieder hat es Ihren Kanton getroffen. 1993, als Ihre Heimat Brig überflutet wurde, mussten Sie sich als Gemeinderätin im Krisenmanagement behaupten. Kamen da Erinnerungen hoch?
Bevor ich am Sonntag ans Trachtenfest nach Zürich gefahren bin, habe ich gesehen, wie hoch der Pegelstand der Rhone war. Die Erinnerungen kamen sofort hoch.
Wie war das damals?
In einer ersten Phase funktioniert man einfach. Wir haben gemacht, was gemacht werden musste. Gut erinnern kann ich mich an den Moment, als die Armee uns ihre Unterstützung zusicherte. Was für eine Erleichterung! Obwohl viele Bauunternehmer aus der Region bei den Aufräumarbeiten sofort halfen, war der Einsatz der Armee notwendig.
Was hat nach der ersten Phase des Schocks geholfen?
Die unglaubliche Solidarität der Schweizer Bevölkerung. Freiwillige, die sich meldeten, um beim Aufräu-men zu helfen, Spenden, die eingingen. Das zu spüren, war wichtig. Erkennen Sie diese Solidarität dieses Mal auch? Ja, es ist eindrücklich, wie die Menschen in den betroffenen Gebieten und die Freiwilligen zusammenstehen und einander helfen. Ebenso wichtig ist der Einsatz von Zivilschutz, Feuerwehr und Armee.
Hilft Ihnen diese Erfahrung heute als Armeechefin?
Auf jeden Fall. Ich weiss, wie wichtig die schnelle und unbürokratische Hilfe der Einsatzkräfte ist. Diese rasche Hilfe hat bei den aktuellen Unwettern gut funktioniert. Die Armee war schon am Sonntag mit Helikoptern vor Ort, um Menschen zu evakuieren.
Apropos schnelle Hilfe: Bis Mittwochabend war die Armee im Tessin noch nicht am Brückenbauen.
Die Armee ist mit Hochdruck dran. Aber selbst wenn wir schnell arbeiten, muss es sauber geplant sein. Eine Brücke zu bauen, die nachher nicht hält und wo gar Menschen zu Schaden kommen, macht keinen Sinn. Darum klären nun Experten, ob auf beiden Seiten der Brückenköpfe bei Cevio die Stabilität gegeben ist, damit man die Brücke auflegen kann.
Und wie unterstützt die Armee die Dörfer im Wallis?
Wir erbringen die Unterstützung, die von den Kantonen angefragt und benötigt wird. Das Wallis hat uns zum Beispiel gebeten, bei der Nachtbeleuchtung und den Räumungsarbeiten zu helfen. Und das tun wir.
Was kann die Landesregierung sonst unternehmen?
Es sind verschiedene Departemente betroffen. Dazu gehört das UVEK, das für die Nationalstrassen und die Umwelt verantwortlich ist. Sowohl die A12 wie auch die A9 wurden durch die Unwetter beschädigt und müssen wiederhergestellt werden. In einem zweiten Schritt muss die Finanzierung geklärt werden.
Sie sind aber im Austausch mit Ihren Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat?
Ich stand mit mehreren Bundesratskollegen telefonisch in Kontakt. Mit Bundesrat Albert Rösti habe ich bereits am Sonntag telefoniert.
Was können die Behörden unternehmen, damit sich solche Unglücke nicht noch mehr häufen?
Verschiedene Massnahmen treffen –wie wir das nach dem Hochwasser von Brig 1993 getan haben. Diese bewährten sich bereits mehrfach. Zum Beispiel beim grossen Unwetter im Jahre 2000, bei dem vor allem Gondo betroffen war.
Was sind das für Massnahmen?
Brig hat damals die Ufermauern der Saltina erhöht. Zudem wurden die Saltinabrücke sowie andere Brücken erneuert. Trotz aller Massnahmen: Ein Restrisiko bleibt im Gebirge immer. Alle, die in den Bergen leben, wissen das.
Experten sind sich einig: Wegen des Klimawandels wird es vor allem in den Bergen zu mehr Extremvorfällen kommen. In der «NZZ am Sonntag» sagte Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik, dass man exponierte Alpentäler in den nächsten Jahrzehnten teilweise aufgeben müsse. Teilen Sie diese Ansicht?
Man muss es den Bewohnerinnen und Bewohnern der betroffenen Alpentäler überlassen, ob sie dort leben wollen oder nicht. Das können wir nicht verordnen. Wir haben in der Schweiz ein anderes politisches Modell, da siedeln wir nicht wegen eines Stausees 10 000 Leute um. Aber gerade im Maggiatal war die Sorge bei den Gemeindeverantwortlichen zu spüren, ob die Menschen in die kleinen Weiler zurückkehren können.
Die Frage betrifft auch die Kosten. Wenn es aufgrund der Schäden durch den Klimawandel teurer wird, die Orte am Leben zu erhalten, kann man den Wiederaufbau volkswirtschaftlich nicht mehr rechtfertigen.
Mit solchen Überlegungen kommt man nicht weit. Die betroffenen Gemeinden und Kantone sind genug verantwortungsvoll, zu sehen, was sinnvoll ist.
Sie sehen aber schon auch, dass der Klimawandel Jahrhunderthochwasser begünstigt?
Es gab immer wieder solche Ereignisse, aber sie treten heute häufiger auf. Diese Entwicklung macht auch mir Sorgen. Ich setze mich seit je stark für Umwelt- und Klimafragen ein. Wir müssen alles Mögliche unternehmen, um dem Klimawandel entgegenzuwirken.