Der Körper dampft in der Flimser Winterluft. Gerade hat Armon Orlik, 24, schweissgebadet die finnische Sauna verlassen und ist in seine Badehose geschlüpft. Im Freien wuchtet der Bündner mit den Bärenkräften einen Holzzuber voller eiskaltem Wasser hoch und leert sich den Inhalt in einem Schwall über den Kopf.
Er prustet, als hätte er eben einen Gegner in Zwilchhosen hochgehoben und dann entschlossen ins Sägemehl auf den Rücken geknallt. Kübelstemmen statt Hosenlupf.
Es ist Anfang Jahr, noch klingt der Winter erst aus, noch verunmöglichen keine Corona-Massnahmen den Besuch einer Wellness-Einrichtung. Orlik geniesst seine Auszeit im grosszügigen Spa des Flimser Hotels Adula. Seit dem Eidgenössischen Schwingfest ESAF 2019 in Zug hat er eine Partnerschaft mit dem Vier-Sterne-Haus.
«Ich unterstütze Curdins Outing. Denn ich weiss, wie wichtig es für ihn ist»
Zwar wohnt Orlik 30 Autominuten entfernt in Maienfeld GR. Doch mit dem Bündner Oberland verbindet ihn auch wegen der Herkunft seines Vaters viel. Als Kind war Armon mit der Familie oft in der Freizeit hier oben, künftig wird er die Infrastruktur des «Adula» gerne zur Regeneration nutzen. Und auch, um etwas Ruhe zu finden, gerade in diesen turbulenten Wochen.
Da ist zum einen die Ungewissheit, was das Coronavirus mit der bevorstehenden Saison 2020 macht. Und zum andern hat das Bekenntnis seines älteren, ebenfalls schwingenden Bruders Curdin, 27, zu dessen Homosexualität viel Unruhe in den Medien verursacht.
Ein Outing zur Unzeit, so unmittelbar vor dem geplanten Saisonstart? Armon stört sich weder am Vorgehen Curdins noch am Zeitpunkt: «Ich unterstütze seinen Schritt an die Öffentlichkeit. Ich weiss, wie wichtig dieser für ihn ist.» Und überhaupt macht Armon Orlik, der selten aus der Ruhe zu bringen ist, kein Aufhebens um die sexuelle Ausrichtung Curdins, der im Bernbiet wohnt und für den Berner Verband antritt: «Für mich ändert sich mit dem Outing nichts. Curdin ist und bleibt dieselbe Person, die er bisher schon war. Ich mag meinen Bruder so, wie er ist. Er darf und soll sein Leben so leben, wie es für ihn stimmt.»
Mehr, findet Armon, gibt es zu diesem Thema wirklich nicht zu sagen. Ganz anders als zum Schwingjahr 2019. Es hätte zum Jahr des grossen Triumphs für ihn werden sollen. Hätte … Nach dem knapp verlorenen Schlussgang am ESAF 2016 in Estavayer gegen Matthias Glarner wird Orlik zum Seriensieger und damit zum ganz grossen Favoriten auf den Königstitel 2019.
Doch in Zug stellt er nach überragendem Auftakt im siebten Gang völlig unerwartet gegen Sven Schurtenberger und verpasst den Schlussgang. «Das war für mich schwerer zu verdauen als die Niederlage im Schlussgang 2016», sagt er heute.
Zwar schliesst Orlik das ESAF ebenso unbezwungen ab wie die gesamte Saison 2019. «Dass ich eine Saison lang nicht einen einzigen Gang verloren und fünf Kranzfest-Siege geholt habe, ist sicher ein starkes Signal an die Gegner.» Und doch ist aus seinen Worten herauszuhören: Der Stachel vom ESAF sitzt tief. «Mein Ziel war der Königstitel, das schleckt keine Geiss weg.»
Dabei gibt es durchaus Erklärungen. Im fatalen Kampf gegen Schurtenberger wirkt der Favorit weniger entschlossen und kompromisslos als üblich. Das Resultat, sagt Orlik rückblickend, habe gewiss kampftaktische Ursachen gehabt. Doch denen liegen körperliche Ursachen zugrunde. «Ich fühlte mich wegen des Rückens nicht voll bereit. Vielleicht wäre es besser gewesen zu sagen: Augen zu und durch, volle Attacke. Aber die Gedanken an meine langfristige körperliche Gesundheit konnte ich nicht einfach abschütteln.»
«Ich habe begriffen, dass ich wohl zu fixiert war auf das Eidgenössische»
Die Saison 2019 des Armon Orlik verläuft alles andere als ungestört. Kleinere Verletzungen setzen ihm immer wieder zu. Und als er wegen Rückenbeschwerden kurz vor dem Eidgenössischen für das Bergfest auf der Schwägalp Forfait geben muss, denkt er sogar daran, auch auf den Saisonhöhepunkt zu verzichten.
«Wegen der Schmerzen, die ich hatte, erschien mir eine Absage für Zug gar nicht so schlimm.» Aber dann ermutigt ihn der Arzt des Nordostschweizer Verbands, er könne noch rechtzeitig in Form kommen. Orlik arbeitet hart, profitiert auch von seinem überragenden Grundlagen-Training im Winter zuvor und schafft es doch noch ans ESAF.
Heute denkt Armon Orlik, dass während der Saison weniger möglicherweise mehr gewesen wäre. «Vielleicht hätte ich im Saisonverlauf auf die kleinen Beschwerden reagieren und weniger Wettkämpfe bestreiten sollen. Mehr Regenerationszeit hätte mir vielleicht die eine oder andere Verletzung erspart. Doch mein Problem ist eben, dass ich viel zu gerne schwinge.»
Böse Träume wegen des grossen verpassten Ziels hat Armon trotzdem nie. «Ich habe rasch begriffen, dass ich wohl zu fixiert gewesen war auf das Eidgenössische.» Heute schätzt er als wertvollstes Ergebnis des vergangenen Jahres ein, die richtigen Lehren daraus gezogen zu haben: nicht generell weniger trainieren, aber im richtigen Moment dosieren. Noch besser auf die Signale des Körpers achten und diesem öfter Regeneration gönnen. Dazu will er sich noch intensiver mit seinen Betreuern austauschen, diesen viele Fragen stellen. «Ich bin kein Athlet, der seinen Trainern einfach blind folgt. Ich muss viel diskutieren. Und meinem Team vertraue ich.»
Wichtigste sportliche Bezugsperson von Armon Orlik ist indessen sein grosser Bruder Flavio. Mit dem 29-Jährigen, einem ehemaligen Spitzen-Judoka und heutigen Verbandstrainer, versteht sich Single-Mann Armon blind.
«Er weiss, was es im Kampfsport braucht, aber auch, was mir als seinem Bruder guttut.» Zwar stehen auch Curdin und Lucas, 30, ein ehemaliger Schweizergardist, ihrem jüngsten Bruder nahe. Doch zu Flavio besteht ein besonders enges Band.
Lieber mal eine Massage mehr pro Woche ist eine der Konsequenzen, die Armon Orlik im Hinblick auf die kommende Saison ziehen will. Im Wellnessbereich des Hotels Adula lässt es sich der Muster-Athlet, der in Schwingerkreisen als besttrainierter aller Konkurrenten gilt, gut gehen.
Nach Sauna und Schwimmbad gehts auch noch zu Coco in den hauseigenen Barber’s Shop. Die Schaumrasur des Barts lässt sich Armon gerne gefallen. Die ungewohnt langen Haare indessen bleiben. «Ich bin nicht eitel», sagt er, «doch nach dem Eidgenössischen hatte ich das Gefühl, Veränderung würde in jeder Hinsicht guttun.»
Inzwischen ist Orlik wieder bereit für die Saison 2020. Doch im vergangenen Herbst verzichtet er während zwei, drei Wochen auf jegliches Training, macht höchstens zum Plausch ein paar Radtouren, «chlütterlet» auch mal an seinem Rennvelo rum und absolviert intensive Französisch-Sprachkurse. Ein Vollblut-Athlet mit fast völligem Sportverzicht? «Moll, das machi ab und zue uuh gääre!»
Und natürlich nutzt er seine Zeit auch intensiv für das Studium zum Bauingenieur an der FHGR in Chur. Zwei bis drei Tage Schule hat Armon Orlik wöchentlich. In zwei Jahren sollte er den Abschluss haben. Und dann im Hinblick auf den dritten Königsanlauf 2022 in Pratteln BL als Vollprofi schwingen? «Kaum, mir würde etwas fehlen, könnte ich den Kopf nicht fordern. Ich bin stets gern zur Schule gegangen.»
Zehn Jahre Schwingsport kann sich Armon Orlik gut noch vorstellen. Anlass, ans Karriere-Ende zu denken, gibt es nicht. Auch nicht, dass ihm mitunter vorgeworfen wird, er tue sich schwer mit der Medienarbeit. «Ist das so? Das verstehe ich überhaupt nicht», entgegnet Orlik, «ich begreife die Rolle und die Bedürfnisse der Medien. Und ich habe ein gutes Verhältnis zu vielen Journalisten.»
So macht sich das Bündner Kraftwerk Orlik mit verarbeiteter ESAF-Enttäuschung und neuer Gelassenheit an die nächsten Ziele bei Grossevents. Der erste davon am 30. August: Die 120 Besten der Schweiz starten in Appenzell beim Jubiläumsfest 125 Jahre Schwingverband. «Ich werde bereit sein. Den Rücken spüre ich zwar ab und zu noch, aber die Verletzung ist voll verheilt.» Und das weiss Armon Orlik jetzt genau: Sein Lebensglück hängt nicht von einem Königstitel ab.