Es fühlt sich an, als würde man durch ein anderes Zeitalter gehen, oder?», sucht Stadtführer This Isler beim Spaziergang durch Werdenberg SG die Bestätigung der Gruppe. Tatsächlich – die Häuser sind vorwiegend aus Holz. Malereien und Sprüche wie «Gugg nit zuo vil in Nachburs Hus, sus got der Segen us dim Hus» zieren die Wände. Ein Steinbrunnen im Zentrum sieht aus, als wäre er aus Eiche. Über allem thront das Schloss.
Stadtrecht Werdenberg
In der Schweiz gelten Ortschaften ab 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern als Stadt. Etliche Orte – wie Werdenberg – dürfen sich auch mit einer geringeren Bevölkerungszahl Stadt nennen, weil sie das historische Stadtrecht haben.
Der Hauch von Mittelalter, den Werdenberg ausstrahlt, fasziniert den pensionierten Lehrer Isler so sehr, dass der 70-Jährige sogar ein Buch über die Historie Werdenbergs schrieb. This (eigentlich Mathias) Isler ist nicht nur Geschichtsbegeisterter, sondern auch ehemaliger Kreativleiter des Schlos- ses Werdenberg. Das Herzstück von Werdenberg hoch über dem Städtli wird heute für Konzerte, Hochzeiten oder als Museum genutzt. Auch This’ Lieblingsort versteckt sich dort: eine spezielle Kammer, in die er gern gehe, um nachzudenken und Entscheidungen zu treffen.
Weiteres Must bei der Städtli- Besichtigung ist das sogenannte Schlangenhaus. Das Museum mit Blick auf den Werdenbergersee verdient sich seinen Namen durch die Schlange, welche unter dem Vordach des Gebäudes an die Wand gemalt ist. «Es könnte allerdings auch ein Windwurm sein», sagt Isler. In Werdenberg hätten schliesslich vier verschiedene Drachenarten gelebt. Das Museum selbst zeigt jedoch statt gefürchiger Fabelwesen das alltägliche Leben der einfachen Bevölkerung in den vergangenen 200 Jahren.
Die Zahl der Leute, die das Städtli besuchen, welches zur Gemeinde Grabs gehört, wächst stetig. Selbst internationale Gruppen reisen an. Das stört jene grundsätzlich nicht, die permanent hier leben – sofern die Gäste mit Respekt kommen. Und die Strassen nicht blockieren. Denn die sind schmal, auf mittelalterlichen «Verkehr» ausgerichtet: Zwei Kühe sollten kreuzen können. Überhaupt sollte man die Werdenberger Idylle «richtig» konsumieren: «Nicht bloss schnell Selfies knipsen – schauen!», appelliert Isler.
Die Werdenberger und Werdenbergerinnen erkennen Besuchende leicht. Bei einer Einwohnerzahl von rund 60 Leuten, kennt jeder jeden. Dennoch seien «alle Arten von Menschen» anzutreffen. «Es wäre unfair, sie in eine Schublade zu stecken.» Wie das Städtchen an sich, das öfters auch als «kleinstes Dorf der Schweiz» bezeichnet wird. «Stimmt aber nicht», sagt This Isler. «Das ist sowieso schwierig zu definieren.» Der Titel «Schweizer Dorf des Jahres» wäre für Werdenberg indessen ein unzweideutiges Attribut.