Barbara Bleisch (51) steigt entspannt von ihrem Fahrrad ab und läuft zum Café Karl der Grosse. Sie hatte in letzter Zeit viele Pressetermine wie diesen. Ihr Buch «Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre» ist vor Kurzem erschienen und stösst auf grosses mediales Interesse. Kein Wunder: Bleisch ist als SRF-Moderatorin von «Sternstunde Philosophie», als Kolumnistin und Buchautorin keine Unbekannte. Als sie beim Gespräch, ohne zu zögern, druckreife Sätze formuliert und das Kameralicht des Fotografen aufblitzt, fühlt es sich fast so an, als wäre sie auf Sendung.
Frau Bleisch, Sie schreiben in Ihrem neusten Buch über die mittleren Jahre. Welche Lebensspanne verstehen Sie darunter?
Die Mitte des Lebens liegt, rein numerisch gesehen, in der Schweiz ungefähr bei 39 Jahren. Aber das zeichnet nicht die mittleren Jahre als Lebensphase aus. Sie umfasst gemäss Entwicklungspsychologie die Zeit von Ende 30 bis Mitte 60, mit ausgefransten Rändern zu beiden Seiten hin. Je nach Biografie und Persönlichkeit fühlt man sich auch darüber hinaus noch «lebensmittig». Meine persönliche Definition lautet: Die mittleren Jahre beginnen, wenn Freundinnen und Freunde einen am Geburtstag jünger machen, als man ist, und man das als Kompliment versteht.
Sollten wir die mittleren Jahre fürchten?
Furcht ist ein schlechter Ratgeber. Und sicher wird die lange Phase von rund 30 Jahren nicht immer von der gleichen Befindlichkeit geprägt sein, sondern man wird auch in dieser Zeit Höhen und Tiefen erleben. Die Vorstellung der mittleren Jahre als ausschliessliche Krisenzeit stimmt wahrscheinlich für niemanden, aber manche fürchten sich vielleicht vor dem Älterwerden, davor, dass die Lebenszeit knapper wird. Umgekehrt stehen viele in ihren mittleren Jahren souveräner im Leben, und sie müssen nicht mehr so viel werden, sondern sind schon eine Menge geworden – es gibt also auch vieles, worauf man sich freuen kann.
Lässt sich eine Midlife-Crisis denn irgendwie verhindern?
Die Frage, wie sich eine Krise vermeiden lässt, scheint mir philosophisch betrachtet gar nicht so hilfreich, weil ich die Krise nicht ausschliesslich negativ sehe. Krisensituationen sind Phasen, in denen existenzielle Fragen an die Oberfläche gespült werden: Wie will ich diese kurze Zeit, die ich auf Erden habe, verbringen? Woran liegt mir wirklich? Der Philosoph Karl Jaspers bezeichnet die Krise als Moment der Existenzerhellung. Darin steckt doch mehr Licht als Schatten!
Wir sollten uns also über Krisen freuen?
Mit dem Gedanken, dass alles Schwere in etwas Positives umgemünzt werden muss, fremdle ich. Ein gutes menschliches Leben ist nicht permanent glücklich und heiter. Menschen sind verletzliche und zweifelnde Wesen, und schmerzvolle Erfahrungen vertiefen unser Leben oft.
Hatten Sie, Frau Bleisch, eine krisenhafte Erfahrung, dass Sie sich mit der Lebensmitte befassten?
Die Auseinandersetzung mit meiner eigenen Endlichkeit und mit dem Tod von anderen Menschen hat in den letzten Jahren auf jeden Fall zugenommen. Auch weil ich einen guten Freund an einem plötzlichen Herztod verloren habe. Über Nacht verstand ich, was ich eigentlich schon immer wusste: wie kurz und kostbar dieses Leben ist und wie schnell es vorbei sein kann.
Die Krise in der Lebensmitte ist ja auch häufig an dieses Klischee gebunden, sich neu zu verlieben oder sich einen Sportwagen zu kaufen. Warum irritiert uns das so?
Wir haben das Gefühl, dass sich jemand nicht altersgemäss verhält. Wenn sich ein 60-Jähriger benimmt wie ein 20-Jähriger, irritiert uns das, und wir machen uns lustig, indem wir sagen: «Ah, Midlife-Crisis!» Mir scheint das nicht hilfreich. Unsere Lebensläufe haben sich massiv pluralisiert und individualisiert. Wir haben zum Glück nicht mehr diese starren Bilder im Kopf, wie ein Leben zu verlaufen hat. Menschen können auch spät noch Eltern werden, mehrere Male heiraten, beruflich umsatteln. Früher war das anders: Wer mit 30 noch nicht verheiratet war, hatte versagt.
Wovon wir uns noch nicht losgelöst haben, ist unser Jugendwahn. Alle wollen immer älter werden, aber niemand will alt sein. Woher kommt das?
Festzustellen, dass man eine durchzechte Nacht nicht mehr so einfach wegsteckt, eine Gleitsichtbrille braucht oder das Knie nach dem Joggen schmerzt, finden wir alle nicht sonderlich schön. Äussere Attraktivität wurde ausserdem immer schon mit Jugendlichkeit assoziiert. In der Antike wurde die Mitte des Lebens dennoch als Blütezeit angesehen. Eine Zeit, in der wir aus dem Vollen schöpfen können dank der Lebenserfahrung, die wir gewinnen konnten, und weil wir souveräner sind im Umgang mit uns und anderen. Anders als im hohen Alter haben wir auch noch viel Zeit vor uns, können mit den Erfahrungsschätzen also auch noch einmal neu ansetzen. Ich wollte herausfinden, was wir der antiken Idee der Lebensmitte als Blütezeit heute abgewinnen können.
Was in der Lebensmitte definitiv abnimmt, sind aber Premieren. Das sprechen Sie auch in Ihrem Buch an. Wenn Sie sich zurückerinnern: Wann haben Sie das letzte Mal etwas zum ersten Mal gemacht?
Ich glaube, Premieren werden zum Teil auch überschätzt. Viele Dinge werden gerade schön, weil wir sie routiniert angehen können. Oder weil wir viel Zeit investiert haben. Freundschaften zum Beispiel. Auch wer lange Zeit ein Instrument spielt, merkt, dass sich das lange Üben auszahlt. Für mich gilt das zum Beispiel beim Schreiben. Ich glaube, ich finde immer mehr meine eigene Stimme. Doch um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe mit meinen Kindern in den Sommerferien zum ersten Mal eine alpine Hochtour unternommen. Das war ein grossartiger Moment, und davon möchte ich gern mehr.
Sie verweisen im Buch auf den Philosophen Albert Camus und die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, die im 30. Lebensjahr einen Umbruch verorten. Vor eben jener 30 fürchten sich ja tatsächlich viele Menschen. Wie haben Sie Ihren 30. Geburtstag in Erinnerung?
Interessant, dass Sie das erwähnen, denn tatsächlich sagte an meinem 30. Geburtstag ein Freund zu mir: Willkommen im Klub. Jetzt hast auch du eine Drei auf dem Rücken. Das ist mir geblieben, weil ich es so negativ empfand und ich tatsächlich nicht rundum glücklich war. Ich habe an meinem 30. Geburtstag zum ersten Mal deutlich gespürt, dass die Uhr tickt. Ich wusste noch nicht so genau, wo ich beruflich landen würde, ich war an der Uni, schrieb an meiner Dissertation, war aber noch nicht fertig damit, und für mich war unklar, wohin meine Reise gehen soll. Der 40. Geburtstag hingegen war für mich viel leichter als der 30.
Haben Sie eine Idee, weshalb Ihnen dieser Wechsel leichter gefallen ist?
Vieles war bereits entschieden. Ich lebte in einer Beziehung, war Mutter geworden, hatte eine interessante Stelle. Ich war zufrieden damit, wie es sich entwickelt hatte. Das hatte etwas Entlastendes. Gerade gestern habe ich gelesen, 60 sei das neue 40. Ich verstehe das einfach nicht, weil ich denke, wollt ihr denn diese 20 Jahre dazwischen wirklich überspringen und damit ausradieren? Wieso sollte es peinlich sein, älter zu werden? Ich finde eher, wir sollten uns auf die Jahre zuprosten, die wir hatten, und darauf, dass wir hoffentlich auch am Leben gewachsen sind.
30 ist womöglich auch ein Wendepunkt, weil die Frage danach, ob man Kinder haben möchte, bei vielen aufkommt. Glauben Sie, dass das der Grund ist, warum wir uns nach 30 fixierter fühlen?
Fixiert, das klingt so böse. Ich würde dem das Wort «Bleibefreiheit» entgegensetzen. In unserer Multioptionsgesellschaft ist es ja für viele Menschen auch eine Last, so viel wählen und entscheiden zu müssen. Ich habe auch ein Buch über die Frage des Kinderwollens geschrieben, und ich glaube, die Frage danach ist nicht leichter geworden, weil viele junge Menschen sich sorgen, ob sie in diese krisengeschüttelte Welt Kinder setzen dürfen. Was ich sagen will: Entschieden zu haben, Züge abgefahren zu wissen, kann natürlich Anlass für Bedauern sein, aber auch entlastend. Im Sinne von: Ich muss mein Rad des Lebens nicht mehr neu erfinden, sondern darf auch bleiben, wo und wie ich bin. Ich persönlich kann und muss zum Beispiel nicht mehr entscheiden, ob ich Mutter werden will. Ich bin es nun ein Leben lang.
Irgendwann lösen sich die ganzen Möglichkeiten ja auch auf. Mit 60 wird jemand kaum mehr der grosse Newcomer im Sport …
Es ist ambivalent: Für manche steht das Bedauern im Vordergrund, dass nicht alles Platz hatte, was sie sich wünschten. Für andere das Entlastende: Spitzensportlerin muss ich auch nicht mehr werden. Und so oder so ist das Leben weit mehr als die Erfüllung von Plänen und das Abhaken von Zielen. Gerade in der Lebensmitte erkennen wir vielleicht, wie viel Glück im Moment liegen kann.