Am Morgen ist sie in Zürich aufgewacht, am Abend wird sie in Barcelona schlafen gehen – aber jetzt steht Barbara Frei, 49, in Berlin auf dem Dach des Stromkonzerns Schneider Electric, und der Wind wirbelt ihr durch die Haare. Die Managerin ist das turbulente Leben gewohnt: «Ich bin drei bis vier Tage pro Woche im Ausland unterwegs.» Als Europa-Chefin des französischen Konzerns ist die Zürcherin verantwortlich für 44'000 Mitarbeiter – und somit die wichtigste Schweizerin in der klassischen Industrie. Eine Topmanagerin, made in Switzerland. Dennoch ist ihr Name in der Schweiz kaum bekannt.
Das hängt damit zusammen, dass Schneider Electric als unbekannter Riese gilt: eine Firma, die hauptsächlich für andere Unternehmen produziert. Doch wer etwa eine Steckdose benutzt, kommt wahrscheinlich mit Schneider Electric in Kontakt. Feller AG stellt die Hälfte aller Schweizer Steckdosen her und ist eine Tochterfirma von Schneider Electric, die 142 000 Mitarbeiter in 100 Ländern beschäftigt. Nach eigenen Angaben stecken in 40 Prozent der Gebäude weltweit Schneider-Technologie.
Als neugieriges Mädchen will Barbara Frei früh wissen, wie der Strom in die Steckdose ihres Daheims in Männedorf ZH kommt. Im Teeniealter schraubt sie an ihrem Computer rum und bringt sich das Programmieren bei. Sie studiert Maschinenbau an der ETH in Zürich und tritt damit in die Fussstapfen ihres Vaters. Unter 200 Studenten ist Frei eine von vier Frauen – als sie promoviert, ist sie die einzige. Mit ihrem Mann Richard, 51, einem Anwalt, bekommt sie während des Studiums einen Sohn, die Tochter bringt sie drei Tage nach Abgabe der Diplomarbeit zur Welt.
Als berufstätige Mutter will Frei nicht mehr beantworten, wie sie Kinder und Karriere unter einen Hut bringt. «Meine männlichen Kollegen müssen das auch nicht», sagt sie. «Ich als Frau werde sofort auf diese Rolle reduziert. Dabei gibt es für mich viel spannendere Themen.»
«Früher war ich im Turnverein. Heute kann ich keine fixen Termine unter der Woche abmachen.»
Neben der Begeisterung für Gigawatt und Megavolt ist nachhaltige Energie eines der Themen, die Barbara Frei elektrisieren. «70 Prozent der Energie wird heute in den Städten verbraucht, damit liegen gleichzeitig hohe Einsparpotenziale in den Gebäuden.» Etwa mit Fotovoltaik. «Ich werde noch dieses Jahr zu Hause Solarpanels auf meinem Dach installieren – die sind heute viel günstiger als noch vor 30 Jahren. Meine Stromrechnung wird sich um einen Drittel reduzieren.» Nicht nur in industriellen Bauten, sondern auch auf dem Land, wo es viele Einfamilienhäuser gibt, sieht Frei Potenzial. «Mit dem Eigenheim selber Energie produzieren, das ist Zukunft.»
Als zielstrebige Ingenieurin heuert Barbara Frei Ende der 90er-Jahre bei der ABB an. 2008 leitet sie für den Schweizer Elektrotechnikkonzern den tschechischen Mark und zieht mit der ganzen Familie nach Prag. Sie lernt die Landessprache und verhandelt mit den Gewerkschaften auf Tschechisch. Später ist sie von Mailand aus für die ganze Mittelmeerregion zuständig.
Lange wird vermutet, dass die junge Senkrechtstarterin als erste Schweizerin in die Konzernleitung der ABB aufsteigt – doch es kommt alles anders. Ende 2016 wechselt Frei zur Konkurrenz, zu Schneider Electric. «Ich war Mitte vierzig, ich hatte Lust, etwas Neues zu wagen», sagt sie. «Schneider ist in den letzten Jahren enorm gewachsen und hat vor allem in der Digitalisierung Gas gegeben – das hat mich gereizt.» 2004 erwirtschaftete die Firma einen Umsatz von 10 Milliarden Euro, heute sind es 26 Milliarden.
Im Berliner Büro liegt ihr kleiner Rollkoffer für den Abflug am Abend bereit. Auf dem Schreibtisch ihr Laptop, einen festen Arbeitsplatz gibt es nicht mal für die Chefin. «Darum räume ich stets mein Pult auf, bevor ich verreise. Das war vorher nicht so.» Frei kann in jedem der 314 Standorte von Schneider Electric in Europa arbeiten. «Aber unterwegs in Zügen und Flugzeugen nicht, weil das zu unsicher wäre – wegen neugieriger Blicke.»
Als erfolgreiche Managerin ist ein regelmässiger Alltag nicht möglich. «Früher war ich im Turnverein Männedorf – das hat mir Spass gemacht. Heute kann ich keine fixten Termine unter der Woche abmachen.» Das aber gibt der Leidenschaft für ihren Job keinen Knicks. «Ich bin ein Mensch, der sehr gerne arbeitet. Nur wenn ich wieder mal am Freitagabend an einem Flughafen sitze und der Flieger zwei Stunden Verspätung hat, frage ich mich, was ich hier eigentlich mache.» Ist es als Chefin von 44'000 Menschen überhaupt möglich, alle Schalter umzustellen und abzuschalten? «Ich habe zum Glück keine schlaflosen Nächte, weil ich weiss, dass es immer eine Lösung gibt.»
Als passionierte Köchin kann Barbara Frei ihre Batterien am besten in der Küche aufladen. «Ich suche im Internet exotische Rezepte und lade meine Freunde zum Essen ein.» Dabei hält sie sich präzise an die Vorgaben. «Wenn es heisst, zwei Teelöffel Gewürz, nehme ich nicht drei. Meine Tochter lacht mich dafür oft aus.» Mit der 26-jährigen Energieingenieurin steht die nächste Generation Powerfrauen schon in den Startlöchern.