Stephan Lichtsteiner, wo haben Sie das Spiel gegen Bulgarien verfolgt?
Bei meinem Bruder zu Hause. Mir ist wichtig, dass ich Ruhe habe, wenn ich Fussballspiele schaue und analysiere. Zudem habe ich mit meinem Bruder den perfekten Gesprächspartner. Er hat mich während der Karriere begleitet, kennt mich und meine Art, Fussball zu interpretieren. Er «challenged» mich jedes Mal von Neuem. So kann ich mich stets weiterentwickeln. Vorher als Spieler, jetzt als Coach. Die Spannung und die Emotionen packen mich noch so sehr, dass ich am liebsten selber wieder auf den Platz rennen würde! Ich bin noch zu nahe am Fussballprofi.
Verfolgen Sie den Fussball heute anders als früher als Spieler?
Ja, aber noch immer sehr intensiv. Da ich in der Trainerausbildung bin und auch als Trainer arbeite, achte ich nun mehr auf taktische Dinge. Generell bin ich relaxter und neutraler – ausser bei meinen Ex-Klubs und der Schweizer Nati, da fiebere ich als Fan mit.
Sie haben mit vielen Spielern der aktuellen Nati zusammengespielt. Wie erleben Sie das Team?
Ich habe noch viel Kontakt mit einigen Spielern und auch mit dem Staff. Seit Muri (Murat Yakin, Anm. d. Red.) nun Trainer ist, kenne ich die Abläufe jedoch weniger genau als noch mit Vlado (Vladimir Petkovic, Anm. d. Red.), wo ich selber alles jahrelang hautnah miterlebte. Doch wie ich die Spieler wahrnehme und was ich von ihnen mitbekomme: Die Stimmung ist rundum sehr positiv. Und auf dem Platz sehe ich bereits Muris Handschrift.
Was meinen Sie konkret?
Das Auffälligste: Die Schweiz bekommt viel weniger Tore. An der EM bekamen sie neun Gegentore in fünf Spielen, in dieser Quali-Phase mit Muri war es ein einziges. Als Spieler hatte Muri eine grosse Karriere, war eine grosse Persönlichkeit. Das sieht man auch als Coach: Er hat eine extrem gute und ruhige Ausstrahlung. Zudem war er ein taktisch sehr intelligenter Spieler. Das setzt er auch als Coach um. Ein Team aufzustellen, das defensiv so stark ist, ist nicht einfach. Und das in so kurzer Zeit! Insgesamt kann ich nur Komplimente machen – auch wenn die positive Entwicklung schon viel früher begann.
Yakin kann also von der guten Arbeit seiner Vorgänger Hitzfeld, Kuhn und Petkovic profitieren.
Genau. Man spürt die langjährige Erfahrung und das Know-how im ganzen Nati-Umfeld. Jeder Coach bringt neue Inputs, und doch gibt es Kontinuität. Dies auch, weil der ganze Staff, der im Hintergrund arbeitet – Goalietrainer, Physios, Materialwart, Ernährungsberater – seit Jahren der gleiche ist und wirklich eine super Arbeit leistet. Grosser Respekt und gegenseitiges Vertrauen sind da und machen alle stärker. Von dieser Basis können vor allem die Jungen profitieren. In den letzten zehn Jahren war es fast immer so, dass junge Spieler bereit waren, wenn es galt, Leistungsträger einer Generation zu ersetzen. Und so steht die Schweiz nun in der fünften Endrunde in Serie.
Wie wichtig war die direkte WM-Qualifikation für die Schweiz?
Extrem wichtig! Die Barrage ist immer ein Risiko. Nur ein schlechtes Spiel – und schon bist du unter Umständen weg vom Fenster. Ich weiss noch, als wir in der Quali für die WM 2018 in Russland überragend gespielt hatten, dann wegen des Torverhältnisses in die Barrage mussten. Dort wurde es gegen Nordirland richtig, richtig knapp. Nun kann sich die Nati mental schon auf die WM vorbereiten. Zudem haben die Spieler Vertrauen gewonnen und gemerkt: Sie sind sehr breit aufgestellt.
Sie sprechen die vielen Verletzten an. Waren Sie überrascht, dass das Team die Ausfälle von Leistungsträgern wie Xhaka, Rodríguez oder Embolo so gut kompensieren konnte?
Nein. Ich bin begeistert, aber nicht überrascht! Ich wusste, dass alle Spieler über grosse Qualitäten verfügen. Da ist das Gerüst aus Spielern wie Sommer, Shaqiri, Schär, Akanji, Zakaria, Freuler oder Gavranovic, welche sehr erfahren sind. Dann sind da die Jungen, welche ihre eigene Handschrift einbringen und Verantwortung übernehmen. Wie etwa Vargas und Okafor sich so gut und nahtlos eingefügt haben, ist beeindruckend. Solche Persönlichkeiten braucht das Team.
Apropos Kritik: In dieser WM-Quali gab es keinerlei Nebengeräusche wie noch während der EM. Ein Vorteil?
Als Spieler darf man nicht nach links oder rechts schauen. Dass medial Dinge aufgebauscht werden, über Haare und Autos diskutiert wird, damit müssen wir umgehen können. Ich finde, die Spieler sollen authentisch bleiben, ihren Weg gehen. Das Team hat immer und überall Respekt gezeigt und seit Jahren grossen Erfolg. Darum geht es doch im Sport!
Mal hochgejubelt, dann zerrissen zu werden: Wie gingen Sie damit um?
Das Einzige, was für mich zählt im Sport, ist gewinnen. Dem habe ich alles untergeordnet. Es gibt sehr viele sehr gute Spieler. Aber es gibt wenige, die wissen, was es braucht, über Jahre immer wieder zu gewinnen. Misserfolg und Kritik gehören dazu. Du musst immer wieder aufstehen, die Lehren ziehen, den Weg konsequent weitergehen.
Hatten Sie nach dem Spiel am Montag Reaktionen aus Ihrer früheren sportlichen Heimat Italien?
Ich habe mich nicht bei den Spielern gemeldet, wollte nicht in den offenen Wunden bohren. Ich weiss selber sehr gut, wie man sich fühlt nach einem Misserfolg. Sie wissen, dass sie ihre Aufgabe nicht gemacht haben und nun zittern müssen. So ist Fussball: Erfolg und Misserfolg liegen nahe beieinander.