Zwei Tage, vier Kantone, neun Personen, 80 Kilometer, 1000 Höhenmeter: Das Geschenk der Kinder Ian (43) und Jenny (31) für ihren Vater, Ski-Legende Bernhard Russi (75) ist keines, das sich so einfach auspacken lässt. Das Geburtstagskind muss vielmehr kräftig anpacken – bei der Vorbereitung und der Bewältigung der Velotour von Bremgarten AG hinauf in Russis Heimat Andermatt UR.
«Diese zwei Tage gehören allein meiner Mari, unseren Kindern und Enkelkindern.» Deshalb will Russi auch weder Fotografen noch Reporter dabeihaben. Einzig am Vortag darf ihm die Schweizer Illustrierte exklusiv beim Packen über die Schulter gucken, und er sagt zu, am Tag nach dem Familienabenteuer über das Erlebte zu sprechen.
Mit Kindern und Enkeln unterwegs
Knapp 20 Stunden vor der grossen Familientour sitzen Bernhard und Mari Russi (62) bei Kafi und Gipfeli in ihrer Stube. Dass seine Frau ihr Croissant in seine Tasse tunkt, bringt Russi zum Lachen. Die beiden haben es wirklich gut miteinander. Seit 1992 sind sie verheiratet, haben Höhen und Tiefen erlebt und sind sich heute näher als je zuvor. Nach dem Zmorge wird Mari mit dem Velo Richtung Bremgarten vorausfahren. Von der mittelalterlichen Kleinstadt an der Reuss, die auf 386 m ü. M. liegt, gehts tags darauf für den Abfahrts-Olympiasieger von Sapporo 1972 in zwei Tagesetappen zuerst gemächlich nach Brunnen SZ. Mari lenkt das Begleitfahrzeug. «Für alle Fälle.»
Streckenweise – wegen der für Velos gesperrten Axenstrasse – muss Russis Tross aufs Schiff umsteigen, das sie nach Flüelen UR ans Südufer des Vierwaldstättersees bringt. Von dort kämpft sich der einstige Skirennfahrer in Begleitung seines Ältesten Ian und dessen Frau Sarah (43) den Enkeln Johnny (11) und Glenn (9) sowie Tochter Jenny (31) und deren Töchter Ria (4) und Margaux (1) nach Andermatt, auf 1444 m ü. M.
Reise bleibt pannenfrei
Für den einstigen Spitzensportler ist die Tour trotz körperlicher Tortur «der schönste Geburtstag, den ich je hatte». Allein der Gedanke, mit der ganzen Familie unterwegs zu sein, zaubert Russi schon am Vortag ein breites Lachen ins Gesicht. Für ihn schliesse sich mit diesem Familienabenteuer ein Kreis. «Die Enkelkinder sind inzwischen ein wichtiger Teil meines Lebens.» Vor Jennys Haus sammelt er die im Garten bereitliegenden Schlafsäcke und -matten, Rias zitronengelbes Kindervelo sowie den Anhänger für Margaux ein, verstaut alles im Auto.
Die Reise bleibt pannenfrei. Aber auf der ersten Etappe muss die Gruppe mehr als einmal umkehren. «Weil wir falsch abgebogen sind oder eine Kreuzung zu früh genommen haben.» Dem Spass der vierjährigen Ria tut das keinen Abbruch. Die Kleine ist hellauf begeistert, mit ihrem Kindervelo beim Grossvater angehängt zu sein – und mitstrampeln zu dürfen.
Im Zickzackkurs gehts via Schiff von Brunnen, wo sich alle mit einem Sprung ins Wasser abkühlen, nach Flüelen. «Auf der Fahrt realisierten wir einmal mehr, wie schön der Urnersee ist», sagt Russi. Am Rütli, dem geschichtsträchtigsten Ort des Landes, trommelt er die Familie zusammen, stimmt «Trittst im Morgenrot daher ...» an. Ein Gänsehautmoment. Seinen Enkeln so ein Heimatgefühl zu vermitteln, bedeutet der Ski-Legende viel. «Wir haben leise gesungen, damit uns die Leute nicht hören.»
In nur zehn Minuten sind am Abend die Zelte auf dem Campingplatz aufgestellt. Eigentlich hätte Russi gern im Hotel genächtigt. «Es gab kein einziges Zimmer mehr.» Die tropischen Temperaturen treiben ihn sogar aus dem Zelt. «Ich schlief unterm Sternenhimmel.»
«Ich bin kein Pensionär»
«Pickelhart» gehts am Sonntagmorgen von Flüelen hinauf nach Andermatt. Russis Kinder und Enkel sind Sportskanonen. «Wir lieferten uns ein Ausscheidungsrennen.» Vor allem sein Ältester und dessen Buben treten kräftig in die Pedale. Fürs Familienprotokoll hält der Grossvater fest, wer wann oben
am Berg angekommen ist: «Johnny, Ian, Glenn, Sarah, Jenny – schliesslich ich», zählt der 75-Jährige auf. «Wir alle sind mehr oder weniger gut trainiert.»
Als ein Highlight bleibt Russi die Ruhe der ersten Etappe durch Wälder in Erinnerung. Einen Schreckensmoment gibts, als Johnny vom Rad stürzt, weil sich eine Autotür plötzlich geöffnet hat. Glücklicherweise passiert ihm nichts. Andererseits hat Russi realisiert, «wie stark mein Heimatkanton durch den Verkehr belastet ist.»
Wie fühlt sich Bernhard Russi als Pensionär mit 75? «Ich bin kein Pensionär», stellt er mit einem Schmunzeln klar. «In Pension geht nur, wer sein Lebtag gearbeitet hat. Ich war und bin bis heute nur beschäftigt!»