Sie lebt weit oben in einem mondänen Hochhaus in Zürich-West. Ihr Lieblingsplatz ist die Sofa-Fensterbank, auf der sie gern Krimis liest. Die grosse Fensterfront gibt einen spektakulären Ausblick frei. «An schönen Tagen», sagt Lena-Lisa Wüstendörfer (40) «sieht man bis in die Alpen.» Ein Sehnsuchtsort für sie. Denn seit zwei Jahren leitet die Dirigentin als Intendantin von Andermatt Music den Konzertbetrieb der Andermatt Konzerthalle – eines architektonischen und akustischen Meisterwerks, 2019 eingeweiht von den Berliner Philharmonikern. «Ein Glücksfall», wie Wüstendörfer sagt, «denn es gibt keinen anderen Ort in den Alpen, wo man einen Konzertsaal 365 Tage im Jahr bespielen kann.»
Auch der kleine Loris hat die Faszination des Ausblicks auf «Zürich Miniature» weit unten für sich entdeckt. Gerade kann er stehen und beobachtet durchs Wohnzimmerfenster fasziniert die Autos und Züge weit unten in der Stadt, wie Spielzeugmobile auf Brücken, Schienen und Strassen. Der flinke Knirps ist der Sohn von Lena-Lisa Wüstendörfer, die sich in ihrer zusätzlichen Rolle als Mutter eingelebt hat: «Meistens nehme ich Loris mit, wenn ich auf Reisen bin», sagt sie. «Denn mein Mann ist als Unternehmer beruflich ebenfalls stark engagiert.» Klar ist Musik auch bei Loris schon ein Thema: Mit Mami produziert er erste Töne auf dem Glockenspiel, ist fasziniert von dessen klarem Klang.
Tätig für renommierte Orchester
Der Terminkalender von Lena-Lisa Wüstendörfer ist durch den Familienzuwachs noch dichter geworden. Denn ihre Arbeit als Intendantin von Andermatt Music ist eines ihrer zahlreichen Engagements. Die umtriebige Musikerin ist auch Gründerin und musikalische Leiterin des Swiss Orchestra. Das Klassik-Ensemble besteht aus jungen, in der Schweiz tätigen Berufsmusikerinnen und -musikern. Es stellt sich der spannenden Aufgabe, Werke von Schweizer Komponistinnen und Komponisten aus den Epochen der Klassik und der Romantik zur Aufführung zu bringen.
«Zu Unrecht fristen diese bis heute grösstenteils ein Schattendasein», sagt Lena-Lisa Wüstendörfer. «Es ist spannend, sie wiederzuentdecken. Denn sie enthüllen eine neue Seite der Schweizer Kulturgeschichte: Entgegen manchem Klischee waren die Schweizer Musikschaffenden jener Zeit alles andere als provinziell, sondern international bestens vernetzt. Sie hatten teils sogar persönlichen Kontakt mit den Grossen der Zeit wie Beethoven, Brahms oder Mendelssohn.» Umso spannender, musikalische Verwandtschaften zu erforschen und dem Publikum zu Gehör zu bringen.
Lena-Lisa Wüstendörfer hat dazu alle Kompetenz. Sie studierte an der Hochschule für Musik in Basel Violine und Dirigieren sowie an der Universität Basel Musikwissenschaft und Volks-wirtschaft und schloss mit einem Doktorat ab. Anschliessend vertiefte sie ihr musikalisches Wissen als Assistenzdirigentin bei Italiens legendärem Maestro Claudio Abbado. Kein Wunder, ist die gebürtige Zürcherin heute als Gastdirigentin international sehr gefragt. So leitet sie renommierte Orchester wie das Zürcher Kammerorchester, das Frankfurter Opern- und Museumsorchester oder das Orchestre national de Metz Grand Est.
Klassische Musik aus der Schweiz
Ihre Leidenschaft aber ist das Erforschen des Unbekannten. Im Rahmen von Andermatt Music führt Lena-Lisa Wüstendörfer am 19. Mai zwei Schweizer Werke auf, die sie von Grund auf erarbeitet hat: die Konzertouvertüre D-Dur op. 16 des Basler Komponisten August Walter und das Concertino pour Clavecin et Orchestre No 1 der Genfer Komponistin Marguerite Roesgen-Champion. «Nur ein kleiner Teil des Schweizer Musikschaffens der Klassik ist katalogisiert und in Bibliotheken erhalten», sagt Lena-Lisa Wüstendörfer. «In vielen Fällen gehe ich selbst auf ‹Schatzsuche› und finde in Nachlässen oder nicht selten auch auf verstaubten Dachböden spannende Schweizer Musikliteratur.» Inzwischen hat sie sich einen Namen als Sammlerin gemacht. Manchmal überlassen ihr Privatpersonen kostbare Manu-skripte zur Forschung und Weiterbearbeitung.
Im Schnitt benötigt die Musikerin über ein Jahr, bis sie ein Werk zur Aufführung bringen kann. Denn Partituren müssen erarbeitet und Notenmaterial für Orchester produziert werden. «Das ist sehr aufwendig und kostspielig», sagt Wüstendörfer. Daher wünschte sie sich, ihre Arbeit würde auch vermehrt von privaten oder staatlichen Kulturfonds unterstützt, die bisher vor allem auf die zeitgenössische Musik fokussiert sind.
Musik und Mutterschaft – gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Dirigieren und Erziehen? «Da müssen Sie meinen Sohn fragen», sagt Lena-Lisa Wüstendörfer und lacht. «Eine meiner Aufgaben als Dirigentin ist es, die Musiker und Instrumente so zu koordinieren, dass im Orchester alles zusammenpasst und im Klang die Balance stimmt. In gewisser Hinsicht hat man als berufstätige Mutter ja eine ähnliche Aufgabe: Man muss dafür sorgen, dass viele Dinge sich am Ende des Tages harmonisch ineinanderfügen.»
Allerdings räumt sie ein, im Moment noch wesentlich mehr Erfahrung als Dirigentin denn als Mutter zu haben. «Das Zweite mache ich ja erst sein einem Jahr, da bin ich noch blutige Anfängerin. Eines ist aber klar: Im Moment bestimmt Loris den Takt!»