Ein mit farbigen Tüchern, Blumen, Kerzen und Buddha-Statuen geschmückter Tempel wartet auf die Gaben der Gäste. Er steht in Rikon ZH, südlich von Winterthur. Gut ein Dutzend Interessierte sind am Montag hierher ins Tibet-Institut zur Vollmond-Meditation gekommen – eine Woche vor dem Auftritt des Dalai Lama im Hallenstadion. Mönch Lama Tenzin (82) meditiert zwei Stunden mit ihnen. Denn der historische Buddha wurde zum Vollmond geboren, zum Vollmond erlangte er Erleuchtung, und bei Vollmond ging er ins Nirwana ein. «Bei Vollmond sind unsere Sinne offen für spirituelle Erfahrungen», betont Lama Tenzin.
Lama Tenzin ist nicht einfach irgendein tibetischer Mönch. Er gehörte zur Gruppe der ersten fünf Mönche, die hier im Westen im Einsatz sind. «Seit 1967 bin ich in Rikon.» Auf persönlichen Wunsch des Dalai Lama begleitete er mit drei Mönchen den ersten Abt des Tibet-Instituts in Rikon. Er erinnert sich: «Als 1959 die chinesische Übernahme endgültig besiegelt wurde, mussten der Dalai Lama und rund 100 000 Tibeter unter Lebensgefahr flüchten.» 1960 beschloss der Bundesrat, 1000 tibetische Flüchtlinge aufzunehmen. Die Schweiz war das erste europäische Land, welches bereits ab 1961 tibetische Flüchtlinge aufnahm – unter Führung des Roten Kreuzes und des Vereins Tibeter Heimstätten.
Die Kochpfannen-Hersteller Henri und Jacques Kuhn sahen schnell, dass die Vertriebenen einen einzigartigen kulturellen und religiösen Hintergrund mitbrachten. Fasziniert reisten Henri und seine Frau Mathilde Kuhn 1966 zum Dalai Lama in dessen Exil im indischen Dharamsala und fragten um Rat. Lama Tenzin: «Der Dalai Lama erkannte die Notwendigkeit, den Vertriebenen eine geistige Heimat in der völlig fremden Schweiz zu bieten.»
Das Familienunternehmen Kuhn Rikon stellte unbürokratisch 4000 Quadratmeter Bauland und ein Kapital von 100 000 Franken zur Verfügung. Doch der Dalai Lama erhielt keine Einreisebewilligung, um für die Eröffnung in die Schweiz zu reisen. Erst 1973 konnte er das bis heute einzige tibetische Kloster unter Schirmherrschaft des Dalai Lama ausserhalb Asiens besuchen. Und erst 1991 wurde er zum ersten Mal vom Bundesrat empfangen. Insgesamt bereiste der Dalai Lama unser Land seither 17 Mal.
«Oh, ich kenne die Schweiz sehr gut!», sagte er in einem früheren Interview mit der Schweizer Illustrierten. «Es ist ein wunderschönes Land. Und die Schweizer sind sehr hart arbeitende Menschen. Fast ein bisschen zu hart.» Wie bitte? «Wissen Sie, das Menschenheil liegt nicht allein in materiellen Werten. Wir sollten bescheiden bleiben, andere Werte wie Familie, Kinder, Freunde nicht vernachlässigen. Zudem finde ich, dass sich die Schweiz in Europa zu sehr isoliert. Sie sollte mehr in der Gemeinschaft mittun. Sie hat viel einzubringen.»
«Er umarmte mich»
Der Dalai Lama spricht das im Buddhismus wichtige Karma an. Wer Gutes tut, dem wird auch Gutes widerfahren. Verliert der Dalai Lama deshalb auch nie ein böses Wort über China?
Lama Tenzin sagt: «Mitgefühl und Vergebung stehen für den Dalai Lama im Zentrum.» Nur auf diese Weise werde es in China zu einer Veränderung kommen. «Ich bewundere den Dalai Lama für seine Güte, selbst in allerschwierigsten Situationen», sagt Lama Tenzin. Ein bleibendes Erlebnis ist für den Mönch ein Besuch im Exil des Dalai Lama im letzten Dezember: «Wir waren als Gruppe an einer Audienz, und jemand sagte dem Dalai Lama, Lama Tenzin aus der Schweiz ist hier. Da kam der Dalai Lama auf mich zu, umarmte mich und schenkte mir ein Buddha-Bild. Das werde ich nie mehr vergessen.»
Wie erklärt er sich, dass in unseren Kirchen an Sonntagen die Bänke immer leerer werden – und der Dalai Lama fast den Charakter eines Popstars hat? «Im Gegensatz zu anderen Religionen steht nicht die Verehrung eines allmächtigen Gottes im Vordergrund – es geht um eine philosophisch-religiöse Lebensführung, die geprägt ist von Liebe, Güte, Mitgefühl und Vergebung.» Das komme im Westen sehr gut an. Er stellt das auch selber in Rikon fest: «Früher ging es darum, den tibetischen Menschen hier eine geistige Heimat zu bieten. Das ist heute vor allem in der Trauerbegleitung bei den 8000 in der Schweiz lebenden Tibetern immer noch sehr wichtig – aber wir bieten nun auch Veranstaltungen für Nicht-Tibeter an, die sich für Meditationen und den Buddhismus interessieren», sagt Lama Tenzin.
Genau umgekehrt funktioniere das Projekt «Science meets Dharma» des Tibet-Instituts Rikon. Auf Wunsch des Dalai Lama werden in den tibetischen Exil-Klöstern in Indien den Mönchen und Nonnen nun naturwissenschaftliche Themen nähergebracht. Ob in Indien oder bei uns – für den Dalai Lama gilt: «Es gibt nur zwei Tage im Jahr, an denen man nichts tun kann. Der eine ist gestern, der andere morgen. Dies bedeutet, dass heute der richtige Tag zum Lieben, Glauben und in erster Linie zum Leben ist.»