Frühlingshaft scheint die Sonne durchs Fenster und wirft Simone Lapperts Profil als Schatten an die Wand. Lange dunkle Haare, markante Brauen, die Augen klar wie Bergkristalle – die 34-Jährige ist eine attraktive Erscheinung. «Wurfschatten» hiess ihr Romandebüt, mit dem der Aargauerin 2014 ein fulminanter Start in den Literatur-Olymp gelang. Letztes Jahr schaffte sie es mit ihrem zweiten Roman, «Der Sprung», auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises. Die Auszeichnung ging an Sibylle Berg. «Ich gönne ihr den Preis. Alles andere wäre seltsam gewesen», sagt Lappert. «Ich habe Zeit und darf noch etwas wachsen.»
Das Geschichtenerzählen hat in ihrer Familie Tradition
Das Talent scheint ihr in die Wiege gelegt worden zu sein. Schriftsteller Rolf Lappert («Nach Hause schwimmen») ist ihr Onkel und Götti, das Geschichtenerzählen hat in ihrer Familie Tradition. Als Kind verbrachte Simone viel Zeit im Wald. Noch heute ist die Natur ihre Kraftquelle – und die Stadt ein Gegenpol. Vor 15 Jahren zog Lappert nach Basel: «Ich kam mir vor wie in New York, so überwältigend war das kulturelle Angebot.» Letztes Jahr hatte sie das Gefühl, sie müsse sich «wieder einmal bewegen». Die charmante Bleibe in Zürich kam da grade recht. Den Luxus muss sie sich verdienen: «Täglich radle ich mit meinem Flohmi-Göppel den steilen Stotz hoch.» Die Zwei-Zimmer-Wohnung teilt sie sich mit ihrem Freund. Das Wohnzimmer dient ihr als Schreibatelier.
«Ich mag es, wenn Objekte Patina haben»
Die Einbände der Bücher hat sie den Farben nach geordnet. Die Einrichtung ist nüchtern und trotzdem verspielt. «Ich mag es, wenn Objekte Patina haben.» Die Möbel stammen aus dem Brockenhaus, vom Flohmarkt, dem Strassenrand. Wie der Kronleuchter im Wohnzimmer, den sie in Basel aus dem Sperrmüll fischte.
Vom Plattenspieler erklingt Nina Simones rauchige Stimme. In der Küche brodelt Wasser für einen Verveine-Rosenblüten-Tee. Oft werden hier Freunde bekocht, die sich am Holztisch zu Spielabenden zusammenfinden – sofern Lappert, die sich ab 15. Januar als Kolumnistin für die Schweizer Illustrierte in die Seele blicken lässt, nicht gerade unterwegs ist. «Die Reaktionen und Begegnungen auf Lesereisen sind bereichernd, das Aus-dem-Koffer-Leben jedoch anstrengend. Da kommt es vor, dass ich mir ein bisschen Alltag zurückwünsche.»
Als 12-Jährige hat sie dem «toten Fleisch» abgeschworen
Auf dem Fenstersims im Wohnzimmer stehen Kräuter zum Überwintern. Sie ist Vegetarierin, «eigentlich Pescetarierin, wie man mir erklärt hat – weil ich Fisch esse». Ihr Grossvater ist Jäger, ihren Vater begleitete sie als Kind auch mal zum Fischen. «Beide gingen respektvoll mit den Tieren um.» Dennoch gelüstete es sie nach dem 12. Lebensjahr nicht mehr nach dem Geschmack von «totem Fleisch».
Simone Lappert ist keine Umwelt-Aktivistin wie ihre Romanheldin Manu. Dennoch findet sie es grossartig, wie die Klimajugend das Bewusstsein dafür geschärft hat, wie wir mit unserem Planeten umspringen. Manu, die Frau aus ihrem jüngsten Roman, steht in Gärtnerkleidung auf dem Dach eines Hochhauses und blickt hinab auf eine ziemlich hysterische Meute. «Spring doch, du Weichei», ruft ihr jemand zu.
Seite um Seite öffnen sich Abgründe, kreuzen sich Wege und Schicksale. Am Ende ist für die elf Protagonisten nichts mehr so, wie es war. Die Presse lobte ihren sorgfältig konstruierten Plot als «verstörend, verletzlich, zu Tränen rührend». Was hilft, wenn man den Halt im Leben verliert? «Es würde schon helfen, wenn man wüsste, was einem hilft», sagt das Erzähltalent. Ihre Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Die Diogenes-Autorin, die während der Arbeit am ersten Roman als Kellnerin jobbte und fürs Schreiben alles auf eine Karte setzte, erfuhr davon aus ihrem Umfeld.
«Ich wollte fragen, wie es in unserer Gesellschaft um die Empathie bestellt ist. Mich interessieren Menschen, Risse, Kippmomente.» Lapperts feines Gespür für Tempo, Timing, Tiefe beeindruckt auch im Gespräch. «Es gibt einen weisen Satz», sagt sie und hält inne: «Man muss immer ein bisschen an den Tod denken, um das Leben zu verstehen.»