Das diesjährige «Welttheater» ist für alle 500 Mitwirkenden aus dem Klosterdorf ein Anlass der ganz besonderen Art: Seit exakt 100 Jahren wird das monumentale Stück des Spaniers Don Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) auf der grössten Freilichtbühne Europas inszeniert. Noch spezieller ist die Aufführung des Barockstücks für Scarlett (16) und Chanelle Ott (15). Die Schwestern erleben das «Welttheater» zum ersten Mal – nicht als Zuschauerinnen, sondern gleich als Darstellerinnen auf der Mega-Bühne. «Bei der letzten Aufführung im Jahr 2013 waren wir noch zu klein, jetzt sind wir mittendrin und erst noch in mehreren Rollen», meint Scarlett Ott mit Stolz.
Auch ihre Eltern, beide Einheimische, sind erstmals als Aktive dabei. Monika Ott (53) auf der Bühne mit den Töchtern, André Ott (45) im Orchester. Der Musikschulleiter und Berufsmusiker spielt am Kontrabass einen gewichtigen Part bei der klanglichen Untermalung des Geschehens auf der Bühne. «Entweder wir machen alle mit oder keiner. Der Beschluss fiel einstimmig: Wir wollen mitmachen!», erinnert sich Chanelle Ott. «Es ist unser Familienprojekt. Wir machen zu viert oft und gern gemeinsame Sache», sagt Monika Ott.
Statt in die Ferien gehen die Otts also diesen Sommer zusammen in die grosse weite Welt. Denn um nichts weniger geht es im «Welttheater», dem legendären Stück ohne klare Handlung, Ort oder Zeit, dafür voller Allegorien, mit eindrücklichen Szenen und Texten, die von romantisch über philosophisch bis krass sind.
Eine «unmögliche Aufgabe»
«The Biggest Show on Earth» – die grösste Schau auf Erden – nennt Lukas Bärfuss (52) das 400 Jahre alte Stück, «ein Mordsspektakel». Der vielfach preisgekrönte Autor, Regisseur und Dramaturg aus Thun BE hat den Stoff fürs heurige 100-Jahr-Jubiläum neu bearbeitet, eine Art Märchen daraus destilliert. «Das Welttheater in Einsiedeln stellt für einen Dramaturgen eine unmöglich Aufgabe dar. Zuerst ist da die Bühne, der gewaltige Klosterplatz. Wer hier ein Theater aufführen will, muss grössenwahnsinnig sein», meint Bärfuss.
Das Wagnis hat der streitbare Autor zusammen mit Regisseur Livio Andreina (70) angepackt – vor elf Jahren! «Wir hatten schon mehrmals zusammengearbeitet. 2013 kam die Idee auf, dass wir uns gemeinsam für das Einsiedler Welttheater bewerben, das Mammutprojekt zusammen stemmen könnten», erzählt Bärfuss. 2017 erhielt das kreative Duo von der Welttheater-Gesellschaft den Zuschlag für die künstlerische Leitung. «Vor acht Jahren standen wir dann erstmals gemeinsam auf dem Klosterplatz, weisch no, Livio?» Jetzt stehen die beiden wieder Seite an Seite vor der imposanten Kulisse, posieren nach der ersten Durchlaufprobe drei Wochen vor der Premiere für den Fotografen, sichtlich erleichtert. Viel ist passiert in den acht Jahren. Ein Krieg, eine Pandemie und multiple Krisen haben die Welt seither durchgeschüttelt. Und heftig auch das Welttheater.
Als die Welt still stand
Ab März 2020 war die Welt im Schockmodus, die Coronapandemie sorgte für Angst und Stillstand. Die für Sommer 2020 geplante Aufführung wurde um ein Jahr verschoben – vorerst. «Im Frühling 2021, drei Monate vor der Premiere, mussten wir entscheiden, ob wir es riskieren, im Sommer zu spielen», erinnert sich Hanspeter James Kälin (71) Präsident der Welttheater-Gesellschaft Einsiedeln. «Die Spielerinnen und Spieler wollten es riskieren, vor allem die Profis. Der finale Entscheid aber lag beim Vorstand und bei mir. Schweren Herzens entschieden wir, nochmals zu verschieben. Und zwar direkt ins Jubiläumsjahr 2024», erzählt Kälin, der selber erstmals 1965 als Knirps auf der Welttheater-Bühne stand und jetzt den Mann mit dem Pflock im Kopf spielt.
Kälin ist einer der unzähligen Einsiedler, die sich mit viel Elan für ihre grosse Schau engagieren. Auch Michaela Trütsch (26) die für das Jubiläumsspiel in die Hauptrolle der Welt schlüpft, war schon als Kind dabei. «Ich spielte 2007 mit zehn Jahren die ‹kleine Welt›», erzählt sie schmunzelnd. Thomas Hürlimann, der damalige Autor, gab ihr die Rolle, sie spielte unter der Regie von Volker Hesse. Einer der Pluspunkte des Welttheaters Einsiedeln ist, dass die Gesellschaft stets die bedeutendsten Schweizer Autoren und Regisseure verpflichtet. Oder auch die, die sich an die grosse Chose überhaupt heranwagen.
Anweisungen per Megafon
Schon bei der ersten Durchlaufprobe Ende Mai ist viel neugieriges Volk auf den beiden Tribünen versammelt. Mittendrin Livio Andreina, der per Megafon seine Anweisungen ans Laien-Spielvolk durchgibt. Ihm zur Seite seine Partnerin im Job und im Leben: Annamaria Glaudemans (66) verantwortlich für die Raum- und Kostümgestaltung. Etwa für die schwarzen Voile-Flügel, welche die Ott-Mädchen zum Spielauftakt als «Wunder der Welt» tragen. Oder das weisse Body-Stocking mit Kreiskragen, in dem Monika Ott als «Frost» über die Bühne wirbelt.
Unkenntlich sind sie dann als «Gleichgeschaltete», bevor sie für eine nächste Szene in kesse Mieder schlüpfen. Derweil André Ott am Kontra-bass im Hintergrund beziehungsweise unter der Arkade im Orchester für den dramatischen Klangteppich sorgt. Am Schluss der Probe versammelt Livio Andreina alle Mitwirkenden auf dem Platz, verteilt Lob und Dank und meint, es gebe noch viel zu feilen. «Wir schaffen das in drei Wochen!» Das haben sie. Die Premiere war ein Grosserfolg!