Mit 50 Jahren ist Alain Berset nun der amtsälteste Bundesrat. Doch wer ist der Mann hinter der monochromen Silhouette, dem glatten Schädel und den schwarzen Augenbrauen? Zu Beginn der Pandemie eine populäre Galionsfigur, doch im Laufe der Krise Zielscheibe von Kritikern und Extremisten. Wir treffen den Bundespräsidenten bei einem Guinness im Café des Arcades in Freiburg. Auf dem Weg wird er von einer erfreuten Passantin angesprochen, vier Teenager bitten ihn um ein Selfie. «Berset, on l’aime – Berset, wir lieben ihn», kommentieren Passanten
Herr Bundespräsident, wie haben Sie Ihre Ferien vor dem Präsidialjahr verbracht?
In den Bergen. Ich bin Ski gefahren, habe Bücher gelesen und Musik gehört. Ich habe einen sehr eklektischen Musikgeschmack und Interesse an elektronischer Musik, immer mit einem Jazz-Hintergrund.
Menschen schütteln sich die Hände, kaum jemand trägt noch Maske. Ist die Pandemie nur noch eine schlechte Erinnerung?
Ich weiss nicht, ob sie vorbei ist, aber sie ist unter Kontrolle. Die Barrieren fallen. Und das fühlt sich gut an.
Als Gesundheitsminister waren Sie während der Coronakrise exponiert, standen gar unter Polizeischutz. Was hat Ihnen in dieser Zeit Kraft gegeben?
Meine starken Wurzeln und mein Team. Wir standen unter unvorstellbarem Druck. Ich war mit Situationen konfrontiert, die mich fast daran hinderten, überhaupt zu arbeiten. Wenn man sich physisch bedroht fühlt, wird es kompliziert.
Sie haben in dieser Zeit ja nicht als Einziger entschieden. Warum bekamen Sie die Anfeindungen am meisten zu spüren?
Im März und April 2020 löste die Pandemie einen Schock aus, der bis zum Sommer anhielt. Alle hofften, dass es schnell vorbei sein würde. Doch als wir aufgrund der steigenden Zahlen im Herbst weitere Schliessungen von Einrichtungen und Restaurants in Betracht zogen, gab es Gruppen, die sich dagegen wehren wollten. Sie brauchten einen Schuldigen. Ich machte Vorschläge, der Bundesrat traf die Entscheidungen. Da ich diese in der Öffentlichkeit präsentierte, war ich im Fokus.
Haben Sie nie daran gedacht, den Bettel hinzuschmeissen?
Ich bin in Bezug auf mein Engagement und mein Arbeitspensum bis an die Grenzen gegangen. Wenn mich das, was ich mit meinem Team und meiner Familie durchgemacht habe, überwältigt hätte, wäre ich nicht mehr hier, um weiterzumachen. Vom 23. Februar bis zum 9. April 2020 arbeiteten wir beispielsweise 18 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, fast ohne Pause.
Diese Zeit war emotional belastend. Wie hat es sich angefühlt?
Seit ich 2011 gewählt worden bin, habe ich den Job immer so gut gemacht, wie ich eben konnte. Und ich sagte mir stets: Ich gebe alles für das Land. Ich habe privat Opfer gebracht. Es ist das Mindeste, meine Arbeit in einem korrekten Umfeld machen zu können. Im Moment, in dem ich mehr denn je investierte, mitten in der Covid-Krise, kamen dann die brutalen Drohungen. Ich fragte mich: «Warum tust du das immer noch?»
Hätten Sie Stopp sagen können?
Ganz klar: ja. Es gibt eine Grenze, ich bin keine Maschine. In Österreich wechselten die Gesundheitsminister während der Pandemie jedes Jahr – etwa wegen Erschöpfung. Paradoxerweise hat mir geholfen zu wissen, dass ich aufhören kann, wenn es nicht mehr geht. Und was auch hilfreich war, die Hunderttausenden Postkarten, Briefe und E-Mails, in denen mir Menschen schrieben: «Wir sind bei Ihnen.» Heute ist das Engagement zwar immer noch gross, aber es ist zu bewältigen, und mir geht es gut.
In jüngeren Jahren haben Sie Leichtathletik betrieben. Hilft Ihnen das in Zeiten extremer Anspannung?
Ich war nicht besonders talentiert, aber ich habe gelernt, was harte Arbeit und Engagement bedeuten. Andere haben weniger trainiert, waren aber viel schneller (lacht). Vor dem Start eines Wettkampfs hatte ich oft Angst, weil ich so viel Arbeit investiert hatte. Ich habe gelernt, mit dieser Angst umzugehen und mich auf mein Ziel zu konzentrieren.
Im Konservatorium in Freiburg trifft Alain Berset Christophe Tiberghien, seinen ehemaligen Lehrer für Jazz-Klavier. Kaum angekommen, legt der musikbegeisterte Minister eine Akkordfolge auf dem Steinway hin. Man spürt: Die Tastatur befreit ihn. «Ich bin in meiner Welt. Wie ich spiele, spiegelt wider, wer ich wirklich bin», so Berset. In seine Leidenschaft vertieft, tauscht er sich mit seinem Gastgeber, dessen begabter Schüler er in seinen Zwanzigern war, über Improvisationstechniken aus.
Was bedeutet Musik für Sie?
Musik ist etwas sehr Starkes und Wichtiges in meinem Leben. Das Klavierspiel ähnelt der Meditation, genauer gesagt, der Selbstbeobachtung. Ich investiere sehr viel Energie in meine Funktion als Bundesrat, aber sie ist nur ein kleiner Teil von mir.
Seit wann fühlen Sie sich zum Jazz hingezogen?
Ich komme aus einer Familie, in der die Musik eine grosse Rolle spielt. Als ich ein Kind war, engagierte sich meine Mutter stark für den Chorgesang, der in Freiburg eine grosse Tradition hat. Im Alter von sechs Jahren trat ich dem Kinderchor bei. Mit fünf oder sechs begann ich mit dem klassischen Klavierspiel, das mich nie mehr losliess. Mit der Zeit brauchte ich etwas mehr musikalische Freiheit. Der Jazz wurde dann zu meiner Ausdrucksform.
Wie kam es dazu, dass Sie sich für Politik interessierten, obwohl Sie eigentlich Wirtschaftswissenschaftler an der Universität werden wollten?
Da spielte der Zufall etwas mit. 1999 war der Freiburger Verfassungsrat damit beauftragt worden, die Verfassung vollständig zu überarbeiten. Ich war damals 27-jährig, und die SP fragte mich an, ob ich da mitmachen wolle. Ich habe mich wirklich engagiert.
Was ist das zutiefst Sozialistische an Ihnen?
Meine Grundwerte. Mein Grossvater war Angestellter der SBB. Ich sah, was es für ihn bedeutete, sich in der Gewerkschaftsbewegung zu engagieren. Ich bin davon überzeugt, dass gemeinsames Handeln das Leben aller Menschen verbessern kann. Hinzu kommen Unterstützung und Solidarität.
2023 feiert die Schweiz 175 Jahre direkte Demokratie. Was ist Ihr Credo als Bundespräsident?
Sich daran zu erinnern, dass nichts für immer gegeben ist. Heute leben weniger Menschen in einem demokratischen Staat als noch vor 20 Jahren. Das Erbe der Aufklärung ist nicht für die Ewigkeit. Die Gesellschaft kann sich zurückentwickeln. In solchen Zeiten ist es angebracht, sich wieder auf unsere stabilen und soliden Institutionen zu konzentrieren. Wir sind das einzige Land der Welt, in dem das Krisenmanagement und die Covid-Frage zweimal zur Volksabstimmung gelangt sind. Das ist grundlegend.
Welche Tugenden möchten Sie besonders pflegen?
Den sozialen Zusammenhalt, den Respekt und den gegenseitigen Kontakt. Das ist auch eine Kritik an den sogenannten sozialen Netzwerken. Man sollte sich in die Augen schauen und miteinander reden. Wenn man etwas zu kritisieren hat, sollte man es tun, ohne sich hinter irgendwelchen Bildschirmen zu verstecken.
Was wünschen Sie sich fürs Jahr 2023, und was wünschen Sie den Schweizerinnen und Schweizern, die das Interview hier lesen?
Das Einzige, was wirklich zählt, ist, glücklich zu sein. Dafür müssen die Bedingungen stimmen, und man muss daran arbeiten. Für mich ist dies das einzige Ziel, das man im Leben verfolgen sollte. Das ist nicht für jeden einfach.
Bearbeitet: Jessica Pfister