«Wollen Sie Aprikosen aus dem Garten?» Nachdem er in seinem Esszimmer eine Stunde lang über Politik geredet hat, findet Pascal Couchepin plötzlich, es sei Zeit für Süsses. Der 82-jährige alt Bundesrat der FDP verschwindet in der Küche, kehrt mit einem Einweckglas zurück. «Selbst eingelegt», verkündet er und schöpft dem Fotografen und der Journalistin je zwei Aprikosenhälften auf den Teller. Viel Zeit für Hausarbeit bleibt indes nicht: Das «Animal politique» aus Martigny VS bringt sich bis heute regelmässig in die politische Debatte ein. Kein Wunder, hat er auch zum «Kä-Luscht-Syndrom» vor der Bundesratswahl am 12. März eine pointierte Meinung.
Herr Couchepin, wie steht es um Ihre Work-Life-Balance?
Meine was?
Ihre Work-Life-Balance. Das ist der englische Ausdruck für das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit.
Ich schreibe nach wie vor regelmässig Beiträge für Zeitungen, informiere mich, bekomme Besuch, diskutiere viel über Politik. Was davon ist Arbeit, was Vergnügen? Für mich ergibt diese Unterscheidung keinen Sinn.
Das Thema ist in aller Munde, weil bei der Mitte-Partei viele mit Verweis auf ihr Privatleben auf eine Bundesratskandidatur verzichtet haben. Martin Candinas will weiterhin mit seinen Kindern Ski fahren, Andrea Gmür nicht nonstop im Einsatz sein. Können Sie diese Begründungen nachvollziehen?
Nein. Stellen Sie sich vor, ich hätte 1998 gesagt, ich könne nicht Bundesrat werden, weil ich am Mittwochnachmittag Tantra-Yoga habe.
Tantra-Yoga ist nicht dasselbe wie Zeit mit den Kindern …
Was ich damit sagen will: Warum haben diese Leute nicht schon früher durchblicken lassen, dass sie sich nicht für den Bundesrat interessieren? Stattdessen haben sie die Öffentlichkeit im Glauben gelassen, dass sie potenzielle Kandidaten sind – nur um dann im letzten Moment Nein zu sagen.
Warum will niemand mehr in diesem Land Verantwortung übernehmen?
Das müssen Sie die Mitte-Partei fragen. Was ich aus eigener Erfahrung weiss, ist, dass ich immer viel Konkurrenz hatte, wenn ich mich für ein Amt bewarb.
Was wollen Sie damit sagen?
Dass die Konkurrenz dachte: Wenn Couchepin diesen Posten anstrebt, dann ist es sicher etwas Erstrebenswertes. Dann will ich auch kandidieren.
Vielleicht ging es auch darum, Couchepin zu verhindern …
Vielleicht. Ich glaube aber eher, dass es andere anspornte, wenn ich mich bewarb. Es gibt in der Politik einen Mitnahmeeffekt: Wenn sich viele für eine Position interessieren, dann wird diese Position aufgewertet. Sagen hingegen immer mehr Leute öffentlich, das Amt interessiere sie nicht, dann schreckt das ab. Dann überlegen sich alle nur noch, was dagegenspricht. Ich bin überzeugt: Es hätte bei der Mitte neben Martin Pfister und Markus Ritter noch mehr Leute gegeben, die Lust gehabt hätten, die sich in diesem Negativklima aber nicht trauten, es zu sagen.
Der 82-jährige Unterwalliser sass von 1998 bis 2009 für die FDP im Bundesrat. Couchepin war zunächst Wirtschaftsminister, ab 2003 Innenminister. Er ist eine der prägenden Figuren der Schweizer Politik. Mit Ehefrau Brigitte (81) hat er drei erwachsene Kinder und elf Enkel.
Wie war das 1998 bei Ihnen: Hat die Frage, wie viel Freizeit Ihnen bleibt, eine Rolle gespielt beim Entscheid, ob Sie für den Bundesrat kandidieren oder nicht?
Nicht wirklich. Ich bin früh in die Politik eingestiegen, war Stadtpräsident von Martigny, später Nationalrat. Mein Familienleben war intakt. Bundesrat schien ein logischer Karriereschritt.
Die Debatte über die Arbeitsbelastung flammte zuletzt 2022 auf, als Simonetta Sommaruga ihren Rücktritt bekannt gab. Sie sagten damals, es werde übertrieben. Bundesrat sei keine Titanenarbeit …
Das Amt ist stemmbar. Es ist keine Mammutaufgabe, wenn man sich gut organisieren kann und bei guter Gesundheit ist. Vielleicht denkt die neue Generation etwas zu fest, sie müsse Zeit für sich haben, für die Familie. Das ist fast schon eine Obsession.
Wurde es Ihnen nie zu viel?
Doch. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich in meiner zweiten Woche als Bundesrat morgens um sechs von meinem Chauffeur zu Hause abgeholt wurde. Ich sagte etwas in die Richtung, es sei hart, so früh aufzustehen. Da hat er mich angeschaut und gesagt: «Sie wollten dieses Amt, jetzt machen Sie den Job.» Er hatte recht. Danach habe ich mich nie mehr beklagt.
Hat man als Bundesrat noch ein Privatleben?
Privatleben, was bedeutet das?
Ski fahren mit den Kindern, Zeit mit der Frau, Urlaub im Familienkreis.
Hatte ich alles: Im Sommer, an Weihnachten und an Ostern verbrachte ich jeweils ein paar Tage mit der Familie. Ski fahren war ich nicht mit den Kindern, weil sie keine Lust hatten, mit mir Ski zu fahren. Sie waren damals Teenager. Sie sagten mir im Nachhinein, es stimme schon, sie hätten mich nicht oft gesehen, sie hätten mich aber auch nicht vermisst (lacht).
Hatten Sie nie das Gefühl, das Erwachsenwerden Ihrer Kinder zu verpassen?
Nein. Wenn ich mir unseren Familienzusammenhalt heute anschaue, finde ich, wir haben es sogar sehr gut hingekriegt, meine Frau und ich. Wobei sie daran den grösseren Anteil hatte als ich. Sie hat sich daheim um alles gekümmert. Mein Sohn und meine älteste Tochter haben heute vier Kinder, meine jüngste Tochter hat drei. Sie denken offensichtlich nicht, dass das Familienleben die Hölle ist.
Der Rat des Alt-Bundesrats der FDP an die zwei Mitte-Kandidaten: «Sie müssen glaubhaft vermitteln, dass sie Lust auf Bundesrat haben.»
Kurt ReichenbachSie blenden womöglich aus, dass das Bundesratsamt heute anspruchsvoller ist als zu Ihrer Zeit.
Warum?
Weil die Welt immer komplexer wird, immer internationaler und digitaler.
Die Welt von heute ist nicht komplizierter oder internationaler als früher. Ich habe als Wirtschaftsminister zig internationale Verträge abgeschlossen. Die Internationalisierung ist kein neues Phänomen.
Ist das Klima rauer geworden?
Politik war immer schon ein hartes Pflaster. Politik ist Wettbewerb. Wenn man den Wettbewerb nicht verträgt, sollte man nicht in die Politik.
Fassen wir zusammen: Sie haben also auch keine Erklärung, warum sich die Mitte so schwertat, Kandidaten zu finden?
Noch einmal. Wahrscheinlich, weil lange niemand den Mut hatte zu sagen: Ich habe Lust auf das Amt.
Dann machen Sie uns Lust! Warum ist das Amt des Bundesrats so toll?
Weil Sie dem Land dienen können. Weil Sie jeden Tag neue Probleme entdecken. Weil sie spannende Menschen kennenlernen und interessante internationale Beziehungen haben. Ihr Leben ist 24 Stunden lang 365 Tage im Jahr interessant. Auch ich hatte zwischendurch schwierige Nächte. Ich stand am Morgen auf und fragte mich: Was, wenn ich plötzlich depressiv werde? Doch sobald ich den Fuss auf den Boden setzte, war es vorbei.
Das tönt fast zu simpel.
Wenn Sie Angst davor haben, kritisiert zu werden, kommt es nicht gut. Sie müssen Freude an Ihrer Arbeit haben und das auch ausstrahlen. Bundesrat ist der beste Job der Welt!
Die Mitte-Partei hat es ja nun doch noch hingekriegt und präsentiert zwei motivierte Anwärter. Wie zufrieden sind Sie mit dem Mitte-Ticket?
Ich nehme die Auswahl mit einem Lächeln zur Kenntnis.
Mit einem Lächeln?
Die Mitte-Partei brüstete sich öffentlich damit, sie wolle der FDP den zweiten Bundesratssitz abluchsen. Und bekundet dann grösste Mühe, nur schon genug Kandidierende für ihren einen Sitz zu finden. Sie werden verzeihen, dass diese Situation einen alten Walliser Freisinnigen zum Schmunzeln bringt.
Welchen Rat geben Sie den beiden Kandidaten mit für den Schlussspurt?
Sie müssen glaubhaft vermitteln, dass sie Lust auf Bundesrat haben. Und dass sie in einer Kollegialregierung zusammenarbeiten können.
Welche Fehler sollten sie vermeiden?
Vorgeben, etwas anderes zu sein, als sie sind.
Wer zieht hinter den Kulissen die Fäden?
Es gibt immer Leute, die vor einer Wahl gescheit daherreden. Gerade diejenigen, die sich selbst überschätzen, haben aber meist am wenigsten Einfluss. Die National- und Ständeräte sind Profis. Sie brauchen keine Einflüsterer.
Wie wichtig sind die Hearings bei den anderen Parteien?
Wichtig, aber nicht entscheidend.
Was ist denn entscheidend?
Eine ganze Reihe von Faktoren: das Alter der Kandidaten, die Herkunft, der Politstil. Ich glaube, viele National- und Ständeräte werden sich diesmal erst im allerletzten Moment entscheiden. Und ich bin überzeugt: Herr Pfister ist nicht so chancenlos, wie viele behaupten. Am 12. März ist alles möglich.
Also auch, dass am Schluss ein wilder Kandidat gewählt wird?
Das dann doch nicht. Der nächste Mitte-Bundesrat wird entweder Martin Pfister oder Markus Ritter heissen.