Karin Keller-Sutter, 56, steht auf der Terrasse des Bundesratszimmers und blickt über Bern. In der Altstadt hat die Justizministerin seit ihrem Amtsantritt vor einem Jahr eine Wohnung. Einmal pro Woche besucht ihr Mann Morten Keller, 55, sie dort. «Wenn man Mitte 50 in eine andere Stadt verpflanzt wird, ist es schwierig, Wurzeln zu schlagen.» Trotzdem fühle sie sich wohl in Bern und freue sich, am Sonntagabend von Wil SG zurück in die Bundesstadt zu kommen.
Frau Bundesrätin, bereitet Ihnen das Jahr 2020 schlaflose Nächte?
Nein, überhaupt nicht. Ich schlafe Gott sei Dank immer gut, auch wenn politisch viel los ist.
Wie viel Schlaf brauchen Sie?
Sieben bis acht Stunden. Ich gehöre nicht zu jenen, die damit angeben, dass sie mit vier Stunden auskommen. Ich gehe wenn möglich früh zu Bett.
Sie vertreten dieses Jahr bei jedem Abstimmungstermin eine Vorlage. Ist das belastend?
Was die Termine angeht: ja. Gleichzeitig motiviert mich der direkte Kontakt mit der Bevölkerung. Ich bin lieber draussen, als nur im Bundeshaus zu sitzen. Hier besteht nämlich die Gefahr, dass man sich in einer Blase bewegt.
Wie oft sind Sie zu Hause in Wil?
Ich versuche, jedes Wochenende nach Hause zu fahren, selbst wenn es Freitagabend spät ist. In Wil integriert zu bleiben, hilft mir, die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Ich treffe mich mit Freunden, habe es lustig. Oder wir gehen in die Natur.
Ihr Hund Picasso ist letztes Jahr verstorben. Hat Sie das schwer getroffen?
Er wurde über 16 Jahre alt, das ist ein schönes Alter. Aber er fehlt mir schon sehr (sie zeigt den Bildschirmhintergrund ihres Handys, wo Picasso drauf ist). Zu Hause in Wil mehr als in Bern. In meinem Büro hier war er nie.
Haben Sie einen neuen Hund?
Nein, das wäre in meiner Lebenssituation nicht möglich. Ich freue mich dafür, wenn wir beim Spazieren alte Bekannte mit Hunden antreffen.
«Meine Grossmutter war Bäuerin. Das Gemälde erinnert mich daran, dass es nicht selbstverständlich ist, als Frau hier zu sitzen»
Karin Keller-Sutter
Wie reagieren die Leute auf Sie, seit Sie Bundesrätin sind?
Sehr sympathisch, selten aufdringlich. Viele sagen: «Frau Bundesrätin, Sie machen das toll.» Es erstaunt mich, weil ich in meinem Amt als Justizministerin sehr polarisierende und emotionale Geschäfte vertrete: das Asylwesen, die Europapolitik, die Konzernverantwortungsinitiative. Ich kann es nie allen recht machen.
Welche der vier Vorlagen, die Sie 2020 vertreten, ist für Sie persönlich die wichtigste?
Die Begrenzungsinitiative. Und das nicht nur in diesem Jahr. Sie ist eine der wichtigsten Abstimmungen überhaupt! Mit einem Ja setzen wir alles, was wir seit dem Nein zum EWR aufgebaut haben, aufs Spiel. Es brauchte damals sieben Jahre Verhandlungen, bis wir die bilateralen Abkommen hatten. Ein Ja zur Initiative würde uns jetzt einen vertragslosen Zustand bringen.
Malen Sie da nicht etwas gar schwarz?
Überhaupt nicht! Die Begrenzungsinitiative verlangt, dass die Schweiz mit der EU innert eines Jahres das Ende der Personenfreizügigkeit aushandelt, sonst müssen wir das Abkommen kündigen. Damit würden automatisch die sechs anderen Abkommen der Bilateralen I wegfallen. Für unsere KMU wäre das fatal, sie brauchen den möglichst barrierefreien Zugang zum europäischen Markt. Unsere Arbeitsplätze und unser Wohlstand sind vom Ausgang dieser Abstimmung unmittelbar betroffen.
Umfragen rechnen mit einem klaren Nein. Ihr Gegner, die SVP, ist gerade mit der Suche nach einem neuen Präsidenten beschäftigt. Sie könnten es ruhig angehen.
Europa ist ein Kernthema der SVP. Sie wird Ihre Anhängerschaft sicher zu mobilisieren wissen. Daran ändert die Präsidentensuche nichts. Die Initianten zu unterschätzen, wäre ein Fehler.
Mit der Begrenzungsinitiative warnen Ihre Gegner vor einer Zehn-Millionen-Schweiz: vor zubetonierten Grünflächen, Gedränge im ÖV, hoher Kriminalität und hohen Sozialkosten. Verstehen Sie diese Ängste nicht?
Ich gehöre nicht zu jenen, welche die Personenfreizügigkeit in den Himmel loben. Jeder Vertrag hat Vor- und Nachteile. Aber ich erinnere daran, dass auch mit dem alten Kontingentsregime zeitweise sehr viele Zuwanderer in die Schweiz kamen. Zwischen 1960 und 1974 waren es durchschnittlich über 100'000 Personen pro Jahr, plus etwa 200'000 Saisonniers. Selbst die Initianten sagen, es brauche die Zuwanderung. Die Babyboomer kommen bald in Pension. Ihren Arbeitsplatz muss jemand übernehmen. Es braucht dringend zusätzliches Personal, zum Beispiel im Gesundheitswesen.
Sollten wir nicht zuerst Personal im eigenen Land suchen?
Sicher! Der Bundesrat sagt klar: Wir wollen nur so viel ausländisches Personal wie nötig. Letztes Jahr wanderten netto 32'000 Menschen aus der EU ein – diese Zahl hat sich seit 2013 fast halbiert. Die Konjunktur bestimmt die Einwanderung. Wenn die Auftragsbücher voll sind und es offene Stellen gibt, brauchen wir Arbeitskräfte.
Trotzdem: Das «grüne Argument» könnte in Zeiten von Greta Chancen haben!
Gut, bei der Frage der Zubetonierung der Grünflächen sollte jede und jeder mal kritisch seine eigene Wohnsituation hinterfragen.
Wie wohnen Sie?
Mein Mann und ich leben alleine in einem Einfamilienhaus. Das wäre in der Generation meiner Eltern nicht denkbar gewesen. Die Ansprüche sind seither gestiegen, der Platzbedarf auch. Um die Zubetonierung von Grünflächen einzudämmen, hat der Bund Massnahmen wie das Raumplanungsgesetz beschlossen – das von den Initianten der Begrenzungsinitiative abgelehnt wurde. Und auch bei anderen ökologischen Vorlagen wie dem CO2-Gesetz sind sie dagegen.
Dafür bringen diese jetzt das Coronavirus ins Spiel. Die 70'000 Grenzgänger, die jeden Tag aus Italien in die Schweiz fahren, zeigen laut SVP, dass die Personenfreizügigkeit falsch ist.
Das Virus kommt aus China und zeigt, wie verwundbar unsere international vernetzte Welt geworden ist. Mit den bilateralen Verträgen hat das Virus nichts zu tun.
Wie schützen Sie sich?
Ich halte mich an die allgemeinen Empfehlungen und schränke wo möglich die Kontakte ein. Es ist aber auch wichtig, besonnen zu bleiben.
Ist Ihr Amt strenger als erwartet?
Nein, ich wusste – gerade auch politisch –, was auf mich zukommt, und sagte mir: Die letzten Jahre meiner beruflichen Laufbahn möchte ich diesem Amt widmen. Und zum Glück hält mein Mann mir den Rücken frei.
Aber privat ists ein Einschnitt?
Natürlich ist es schwieriger geworden, die Privatsphäre zu wahren. Es gibt immer wieder Leute, die Selfies machen wollen – zum Teil in sehr privaten Momenten.
Zum Beispiel?
Wenn wir am Samstag einkaufen gehen. Ich sage dann höflich Nein, das sei jetzt privat.
Sie sind Schirmherrin der parteiübergreifenden Allianz für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Doch letztes Jahr sagten Sie: «Man kann nicht alles haben – drei Kinder, ein Verwaltungsratsmandat und eine politische Karriere.»
Das ist kein Widerspruch. Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist der Schlüssel zur Chancengleichheit. Jedes Paar muss aber für sich entscheiden, wie es Arbeit und Privatleben aufteilt – ohne dass der Staat sich einmischt. Auch ich musste mich mit meinem Mann absprechen, als ich mit 36 Jahren Regierungsrätin wurde. Und ich muss ehrlich sagen: Mit kleinen Kindern hätte ich den Job nicht machen können.
Warum sind Sie da so sicher?
Weil ich zwölf Jahre praktisch mit der Regierung verheiratet war. Und Chefin von 1500 Mitarbeitenden. Ein Regierungsmandat – auch das einer Bundesrätin – ist ein 24-Stunden-Job. Meine Lebenserfahrung zeigt mir: Sie haben 100 Prozent, die Sie geben können. Ich hatte mich damals zu 100 Prozent der Aufgabe als Regierungsrätin verschrieben. Mit kleinen Kindern hätte ich ihnen gegenüber immer ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber auch hier kann ich nur für mich sprechen. Das sind sehr persönliche Angelegenheiten.
Männer scheinen weniger ein schlechtes Gewissen zu haben.
Ich kenne andere Beispiele. Marcel Dettling, der als SVP-Präsident gehandelt wurde, sagte ab – weil er eine Familie mit kleinen Kindern hat. Es gibt heute viele Männer, die gerne mehr zu Hause sind. Es ist wichtig, sie zu unterstützen. Und falls beide arbeiten, braucht es Krippenplätze. Dafür setze ich mich ein.
Wie viele Frauen arbeiten bei Ihnen im Departement?
Vier von sechs Mitarbeitenden meines Stabes, die ich eingestellt habe, sind Frauen. Die meisten Mütter. Nächstes Jahr organisiert mein Departement übrigens die Feier zu 50 Jahre Frauenstimmrecht. Da freue ich mich drauf.
Welche Frau hat Sie geprägt?
Die Generation meiner Grossmutter. Sie war Bäuerin. Das Gemälde in meinem Büro erinnert mich an sie und daran, dass es nicht selbstverständlich ist, als Frau hier zu sitzen.