Das Video ging viral: Mit einem beherzten Sprung in den Pool, noch im Renndress und mit Startnummer, feierte Camille Rast (25) am Sonntag ihren ersten Weltcupsieg. Die Schweizer Skifahrerin gewann den Slalom in Killington (USA) und meinte danach, das sei alles «total verrückt». Dank einem ausgezeichneten Saisonstart ist Rast aktuell sogar Führende im Gesamtweltcup – vor der amerikanischen Ausnahmefahrerin Mikaela Shiffrin (29). Es ist wie ein Märchen und das vorerst letzte Kapitel eines aussergewöhnlichen Comebacks.
Camille Rast wuchs im Walliser Dörfchen Vétroz auf, stand als Zweijährige erstmals auf Ski, ging in die Zirkusschule und spielte Fussball, war kräftig und elegant, geschmeidig und geschickt. «Pippi Langstrumpf» wurde sie wegen ihrer zwei langen Zöpfe genannt. Sie galt früh als Wunderkind, wurde als «neue Vreni Schneider» gehypt. 2017 Junioren-Weltmeisterin im Slalom, zwei Jahre später auf gleicher Stufe Silber im Riesen- slalom. Rast raste scheinbar mühelos durch Leben und Laufbahn.
Doch es gab viele Brüche in ihrem Alltag: Verletzungen und Krankheiten, Depressionen und Corona. Über diese dunklen Zeiten sprach Camille Rast 2021 als 22-Jährige ausführlich und mit bemerkenswerter Offenheit. Es ging um die existenziellen Fragen: Warum lebe ich? Wofür genau? Und: Was soll ich auf dieser Welt?
Fieber und Depression als Karrierehindernis
Eine heftige Variante des Pfeifferschen Drüsenfiebers hatte ab 2017 ihren Aufstieg gebremst. Rast litt, sie schlitterte in eine schwere Depression, kämpfte auch dagegen – bis sie nicht mehr konnte.
«Man vergisst es ein Leben lang nicht, wenn man nicht mehr leben wollte», sagte sie. Camille Rast hinterliess einen charmanten, humorvollen, klugen, aber manchmal auch nachdenklichen und routinierten Eindruck. Sie sagte: «Man lebt immer mit der Unsicherheit, ob diese dunklen Gedanken nicht wieder zurückkommen. Aber ich habe keine Angst mehr.»
Nach dem Tief das kaputte Knie
Über ein Jahr lang war Rast in psychologischer Behandlung, in den schwierigsten Momenten wies sie ihre Eltern sogar an, alles Material fürs Skifahren und Biken, ihre zwei riesigen Leidenschaften, zu verkaufen. Zu Camille Rasts Geschichte gehörte eine schwere Verletzung 2019 nach einem Rennsturz: Kreuzbandriss, Innenbandriss, die Knochen rund ums Knie stark beschädigt. Doch was ist schon eine Blessur gegen diese seelischen Leiden?
Camille Rast geriet in Vergessenheit. Das Business ging weiter. Schrittchen für Schrittchen befreite sie sich aus ihrer sozialen Isolation. Als Mensch. Und auch als Sportlerin. Vorerst mit ausgedehnten Biketouren, irgendwann wieder auf Ski. Mit 25 Jahren beweist Rast nun ihre Qualitäten als Spitzentechnikerin. Und den grössten Sieg in ihrem Leben hat sie ohnehin längst errungen – sie hat das tiefe Tal der Tränen überwunden. Bei unserem Gespräch damals in Grimentz sagte sie: «Es ist voll okay, nicht immer okay zu sein.»
Fabian Ruch ist Redaktionsleiter von «Sportlerin». Camille Rast hat ihm ihre schicksalsschwere Lebensgeschichte erzählt. sportlerin-magazin.ch