Im schalldichten Heim von Oliver Schnyder, 47, ist Musik Trumpf. Seine Frau Fränzi Frick, 46, ist die Virtuosin auf der Violine. Sohn Ian, 13, lässt die Saiten seiner Elektrogitarre erzittern. Der Maestro gibt am Flügel Vollgas. Er besitzt insgesamt drei Stück davon. Sein teuerstes Modell von Steinway & Sons kostet heute 200 000 Franken.
«Oliver war mal kurz mein Schulschatz», sagt Fränzi lachend. Sie hat ihren Mädchennamen behalten. «Wir sind uns auf dem Spielplatz das erste Mal begegnet und haben später gemeinsam Musik gemacht. Er scharte schon damals die Groupies um sich.» Wird der Klavier-Lyriker heute bei Konzerten von weiblichen Fans belagert, ist Eifersucht fehl am Platz. Das Paar ist seit 2007 glücklich verheiratet.
Oliver Schnyder ist der zurzeit erfolgreichste Schweizer Klavier-Export. Es gab Zeiten, da war der Aargauer Pianist und Kammermusiker im Ausland berühmter als in seiner Heimat. Arroganz und Überheblichkeit sind ihm fremd. Mit seiner Art und seinem Tun verkörpert er eine Kategorie von Künstlern, die schon auf den ersten Blick innere Stärke und Sympathie ausstrahlen. Das zeigt sich ebenso beim persönlichen Gespräch, das in Schnyders Terrassenhaus in Ennetbaden AG stattfindet.
«Melancholie ist wichtig, um in die Tiefen der Musik vorzudringen»
Vom verschneiten Balkon der elegant eingerichteten Wohnung blickt man auf Mario Bottas Bäderwelt. Sie soll Ende 2021 eröffnet werden. Der Gastgeber führt die Besucher durch die drei Geschosse, serviert Kaffee, tischt Gebäck auf. Im Kamin lodert ein Feuer. In der Ecke schurrt Racy, eine von zwei Maine-Coon-Katzen. «Die beiden sind Zwillinge. Sie sehen zwar aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben, dabei haben sie es faustdick hinter den Ohren. Hinter dem Haus entsorgen wir jeden Morgen ihre Beute, die sie in der Nacht gejagt und dann doch nicht ganz verspeist haben.»
Später wird sich Oliver Schnyder in seinem Studio im Untergeschoss ans Piano setzen und seinem Instrument melancholische Töne entlocken, die den Zuhörer in ungeahnte Tiefen entführen. Beethovens Klavierkonzerte berühren! Viereinhalb Stunden übt der Maestro täglich, damit sein Spiel geschmeidig bleibt. Das Einspielen einer Partitur ist für ihn eine grüblerische Arbeit. «Man forscht, zweifelt, verzweifelt, entdeckt, geniesst. Ich bin immer auf der Suche nach Schönheit.»
Nicht nur als Solist erklomm Oliver Schnyder die Piano-Himmelsleiter. Auch mit seinem 2012 gegründeten Oliver Schnyder Trio feiert er Grosserfolge. Mit dabei: seine Freunde, die Tonhalle-Musiker Benjamin Nyffenegger und Andreas Janke. Mit seiner Frau Fränzi leitet er zusätzlich die Lenzburgiade Klassik und Folk (15. bis 20. Juni 2021). Und organisiert mit Thomas Pfiffner die Konzertreihe Piano District in der alten Druckerei Baden.
Jeden Sonntag gab es in der Wohnung von Schnyders Eltern im aargauischen Möriken Musik zum Frühstück. Oliver erinnert sich: «Als Junge war ich ganz vernarrt in die Schallplatten von Artur Rubinstein. Dieser gab mit 89 Jahren in London sein letztes Konzert. Mit drei Jahren spielte ich die ersten Tonleitern – auf dem Klavier meiner Nachbarin.» Sie liess den Knirps nach Herzenslust darauf herumklimpern und erkannte sein Talent.
Die Aargauer Lehrerin Emmy Henz-Diémand krempelte das Leben des Elfjährigen von einem Tag auf den anderen um. «Ich war plötzlich ein Profimusiker. Egal, wie viele Hausaufgaben: Ich musste meine Arbeit am Piano schultern. Um mein Pensum zu meistern, ging ich um neun Uhr zu Bett und stand um drei Uhr auf.» Dass das Wunderkind von den Nachbarskindern als «Amadeus» gehänselt wurde, nahm Oliver Schnyder gern in Kauf.
«Ich forsche, zweifle, verzweifle, entdecke. Ich bin immer auf der Suche nach Schönheit»
Danach geht es Schlag auf Schlag. Er studiert an der Zürcher Hochschule der Künste bei Homero Francesch. Besucht die Meisterklasse von Leon Fleisher am Peabody Conservatory of the Johns Hopkins University in Baltimore. Gibt im John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington D. C. im Jahr 2000 sein Debüt. Und tritt 2002 mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter David Zinman anlässlich der Orpheum-Musikfesttage auf. Es ist sein Durchbruch. «Der Orpheum Stiftung verdanke ich viel. Man gab mir als Schweizer die Möglichkeit, mich auf internationalem Parkett zu beweisen. Die Solistenförderung ist ein fantastisches Sprungbrett für junge Talente.»
Schnyders Repertoire ist breit. Zu seinen Fixsternen gehören Schubert, Beethoven, Brahms, Mendelssohn, Rachmaninow. «Ich bin für alles offen und habe einen neugierigen Charakter», sagt der Workaholic, der pro Jahr von Paris bis Tokio rund 70 Konzerte gibt. Doch 2020 ist alles anders. «Alles ist abgesagt. Die Situation tut mir im Herzen weh. Sie macht etwas mit mir. Nun müssen wir lernen, etwas Positives aus dieser Situation zu machen.»
Oliver Schnyder lebt wie viele Künstler seit Monaten vom Ersparten und studiert 2020 die Goldberg-Variationen von Bach ein. «Das Werk ist wunderschön, umfassend und sehr komplex. Obschon ich mir diese Aufgabe fürs Alter aufgespart hatte, war jetzt der richtige Moment gekommen.» Klassische Musik ist für den Star-Pianisten nicht nur etwas vom Faszinierendsten, was der Mensch je hervorgebracht hat. «Sie ist auch Balsam für geplagte Seelen. Ihr Trost ist sehr wertvoll in diesen schweren Zeiten.»