Die Stimme ist von Weitem zu hören. Géraldine Knie (50) unterhält sich auf Englisch mit einem polnischen Mitarbeiter. «Entschuldigung, er hatte ein Problem, da musste ich mir kurz Zeit nehmen», erklärt die künstlerische Direktorin des Circus Knie. «Meine Mitarbeiter wissen, dass ich für sie immer ein offenes Ohr habe.» 210 Personen aus neun Ländern kommen in der und um die Manege zusammen, Géraldine Knie wechselt zwischen verschiedenen Sprachen hin und her, «aber ich träume auf Italienisch».
Géraldine Knie, ist es anstrengend, für alle stets erreichbar zu sein?
Für mich ist es kein Problem. Aber meine Kinder haben Vorrang, sie sind klar meine Nummer eins.
Wie sind Sie als Chefin?
Ich mag dieses Wort nicht. Wenn mich jemand so nennt, sage ich: Stopp, ich bin Géraldine.
Und wie ist Géraldine?
In meinem Herzen sind alle Menschen gleich.
Wie würden Sie Ihren Führungsstil bezeichnen?
Den gibts nicht wirklich. Aber sicher ist: Was ich mache, mache ich mit Leidenschaft. Das Erbe meines Vaters und meines Grossvaters weiterzuführen, ist kein Job, sondern eine Ehre. Daher ergibt sich der Umgang mit meinen Mitarbeitenden ganz natürlich. Ich spiele niemandem etwas vor. Und ich sehe mich nicht als Direk-torin. Vielmehr will ich das Unternehmen vorwärtsbringen. Mein Glück ist es, einen Mann zu haben, der meine Leidenschaft teilt. Maycol ist derjenige, der es schafft, meine Träume für die Show technisch umzusetzen. Meine Grosscousine Doris Knie macht das Büro – wir ergänzen uns extrem, das ist Gold wert.
Es herrscht keine Hierarchie?
Es gibt Themengebiete. Und wir reden einander nicht drein. Ein Artist muss einem Mitarbeiter nicht sagen, wie er den Anker schlagen soll. Aber jeder bietet dem anderen Hand.
Doch Sie sind die Grande Dame des Circus.
(Lacht.) Das finde ich etwas doof, ehrlich gesagt. Manche bezeichnen die Knies als Königsfamilie der Schweiz. Es ist sehr rührend und schön, dass das Publikum so mit uns mitgeht. Aber die Bezeichnung Königsfamilie ist nicht mein Ding.
Ihr Telefon klingelt. «Entschuldigung, es ist Ivan.» Sofort beginnt Géraldine Knie mit ihrem ältesten Sohn auf Italienisch zu sprechen. Eine Minute, dann ist alles geklärt. «Er ist übrigens mein Prinz», sagt sie mit einem stolzen Lachen.
Was wäre, wenn Ihre Kinder eine Saison aussetzen wollten?
Dann würde ich sie beim Entscheid begleiten. Ich will nicht, dass sie einmal finden, etwas verpasst zu haben, nur weil ihre Mutter es nicht wollte. Alle drei sind bodenständig und intelligent, ich muss mir keine Sorgen machen. Aber im Herzen fände ich es natürlich schade.
Und Sie, wollten Sie nie andere Luft schnuppern?
Wissen Sie, mein Leben ist so abwechslungsreich, ich schnuppere jeden Tag. Aber als Einzelkind merkte ich früh, dass viel von mir abhängt, dass ich der Sonnenschein meiner Eltern bin. Sie packten mich in Watte und wollten mich vor allem beschützen. Dennoch fühlte ich keinen Zwang. Ich wusste, mein Vater würde immer mein Begleiter sein. Wir zogen am gleichen Strick – ich führte nie Krieg gegen meine Eltern.
Was machen Sie gleich wie Ihr Vater?
Wir fokussieren stark auf die Show, wollen Emotionen schenken, das Publikum verzaubern und vor allem glücklich machen.
Und worin unterscheiden Sie beide sich?
Ich mache meinen Kindern sehr viele Komplimente, vielleicht etwas zu viele. Für mich sind sie die besten, schönsten und liebsten. Wenn sie einen «Seich» machen, sage ich das auch. Aber mit Ivan kann ich mich an keinen Konflikt erinnern.
Ihre Kinder sind immer um Sie herum.
Das ist mein grosses Glück! Selbst bei den Proben kriege ich den Kleinsten, Maycolino, nicht ins Bett. Er will zusehen, gibt mir Feedbacks zu den Nummern (lacht).
Wird es Ihnen nie zu viel?
Ich habe eine sensationelle Nanny, die seit 30 Jahren bei uns ist. Alma ist «mein Dobermann». Schon meine Pferde durfte früher niemand anfassen oder reiten – ausser meine Familie. Bei den Kindern bin ich sehr beschützend.
Sind Sie auch mal ganz allein?
Ja, wenn alle schlafen, geniesse ich die Ruhe. Seit ein paar Jahren kann ich nicht mehr gut und nicht mehr früh schlafen. Dann sitze ich in der Stille im Dunkeln.
Haben Sie Tagträume?
Früher schon, vor allem beim Ausreiten mit meinen Pferden. Heute habe ich zu viele Aufgaben. Zu Beginn hechelte ich ständig hinterher, machte alles gleichzeitig. Ich habe nun gelernt, eins nach dem anderen zu erledigen.
Ohne die Pferde – wären Sie eher Artistin oder Clownin geworden?
Als Clownin wäre ich nicht lustig! Ich habe mich zwar schon sehr verändert, aber früher war ich eher zurückhaltend und schüchtern. Selbstbewusst bin ich auch heute nicht. Ich bin sehr selbstkritisch und zweifle an meinen Entscheidungen. Mein Mann sagt dann: «Entscheide dich, los!» Ich brauche ihn, er muss mich «chli gingge».
Die Tage vor der Saisonpremiere waren für Géraldine Knie und ihr Team hektisch. Die neue, aufwendige Technik für den illuminierten Wasservorhang hatte wegen der aktuellen Weltlage Lieferprobleme, was die Proben verzögerte.
Wie gehen Sie mit Druck um?
Das ist mein Leben. «Tutto rose e fiori» – alles rosig –, daran glaube ich nicht. Aber ich bündle meine Energie mittlerweile besser, stresse mich selber nicht mehr. Das muss ich mir zuliebe tun, denn ich habe Blutdruckprobleme. Und eine neue Technik ist kompliziert. Das nervt, klar, aber es gibt keine Wunder im Leben.
Wie haben die gesellschaftlichen Veränderungen der jüngsten Zeit Sie beeinflusst?
Die Situation weltweit bereitet mir Angst und sorgt nicht gerade für ruhige Nächte. Die Nachwehen von Corona spüre ich noch stark, diese Existenzängste. Mein Mann, Doris und ich achten sehr stark auf die Finanzen des Zirkus, bei Zahlen sind wir drei Wadenbeisser. Nur bei der Show wird nicht gespart, das ist unser Heiligtum.
Bedauern Sie gewisse Entwicklungen?
Ich schaue «fürschi». Es bringt nichts, gegen den Strom zu schwimmen. Das Publikum entscheidet, was Freude bereitet. Und wir treten nun im Winter auf, haben dafür länger Sommerpause. Früher mussten die Leute 1500 Franken für ein Flugticket bezahlen, jetzt kommen sie mit 120 Euro im Sommer nach Ibiza. Das spüren wir.
Wann machten Sie denn zuletzt Ferien?
Machen wir schon lange nicht mehr, zwei Tage Spa im Jahr reichen meinem Mann und mir.
Wie tanken Sie Energie?
Durch die Freude des Publikums. Wenn ich sehe, wie die Leute hereinkommen und mit einem Strahlen wieder rausgehen – das ist meine grösste Freude, meine Batterie.
Erneut klingelt das Telefon. Dieses Mal ist es Luis. Géraldine spricht Englisch. Über die Beobachtung, dass sie dabei auch verschiedene Akzente annimmt, lacht sie. Ein kurzer Moment der Gelassenheit, denn sie ist nervös. Kommt die Show nach dem letztjährigen Grosserfolg auch wieder gut an? «Die Leute wollen mir jeweils gut zureden, aber das kommt bei mir nicht an», sagt sie. «Ich muss die Dinge spüren.» Darum fällt sie die Entscheidungen, welche Nummern es ins Programm schaffen, intuitiv. «Das habe ich im Blut», sagt sie. «Und unser Publikum ist drei- bis hundertjährig. Das Welschland findet andere Nummern toll als die Deutschschweizer – und das Tessin ist nochmals anders.»
Sie wurden kürzlich 50.
Ou! Ich hatte so viele Anfragen und wollte nur Ruhe. Ich setzte mich um sieben Uhr ins Auto, und dann tönts aus dem Radio: «Happy Birthday, Géraldine Knie! Sie feiert heute einen Runden!» (Lacht.)
Wieso feiern Sie nicht gern?
Geburtstage sind nicht mein Ding. Ich habe Mühe damit, dass das Leben zu schnell vorbeigeht. Ich möchte noch sehr lange auf dieser Welt bleiben und wünschte, auch meine Eltern könnten ewig bleiben.
Haben Sie Angst vor der Endlichkeit?
Das ist schon mein Problem. Ich dachte sehr lange, dass ich nie ohne meinen Grossvater leben kann. Und plötzlich war der Moment da. Ich war sehr lange traurig, und zwar so richtig. Dann habe ich zum Glück meinen Mann Maycol kennengelernt. Liebe auf den ersten Blick. Manchmal frage ich mich, wie ich ihn verdient habe.
Übrigens, es existiert kein Wikipedia-Eintrag über Sie.
Ist besser, dann sieht man das Alter nicht! (Lacht.)
Wenn Sie an Ihre Träume von früher denken und wo Sie heute stehen …
… bin ich glücklich. Ich bin im Leben angekommen und denke nicht, dass ich in 20 Jahren sagen werde, dass ich etwas verpasst habe. Das ist der heutige Stand! (Lacht.)