Silvia und Christoph Blocher (83) haben ein Ritual: Abends im Bett liest er ihr aus einem Buch vor. «Oft schlafe ich dabei ein», sagt Silvia Blocher (79). «Ich habe eben so eine schöne Stimme», witzelt der 83-Jährige. Aktuell liest Blocher seiner Frau «Anne Bäbi Jowäger» von Jeremias Gotthelf vor. Gegen Mitternacht steht er nochmals auf. «Ich liebe diese ruhige Zeit, dann kann ich ohne Ablenkung Dinge abarbeiten.» Oft legt er sich erst zwei Stunden später wieder neben sie, bevor er gegen halb sechs aufsteht – und in den Feldern oberhalb ihrer Villa in Herrliberg ZH spazieren geht. Seine Frau trifft er nach sieben Uhr zum Zmorge.
Am 4. Oktober ist es 57 Jahre her, dass sich die Blochers in der reformierten Kirche von Weinfelden TG das Jawort gegeben haben. Sie war Primarlehrerin, er ein mittelloser Student. Heute ist er Milliardär und einer der prägendsten, aber auch umstrittensten Politiker der Schweiz. Silvia Blocher war dabei stets an seiner Seite – und, so sagt er selber, eine seiner wichtigsten Beraterinnen.
Herr Blocher, was war der beste Rat, den Sie je von Ihrer Frau bekommen haben?
Mass zu halten.
Wo?
Überall.
Silvia Blocher: Ich sehe das als Lebensphilosophie.
Christoph Blocher: Ich mache spontan, was ich als richtig empfinde. Das ist bei intuitiven Menschen so. Da besteht natürlich die Gefahr, dass man überbordet.
SB: Bei Veranstaltungen habe ich zum Beispiel gesagt: nicht mehr als fünf Anlässe pro Woche.
CB: Vor der EWR/EU-Abstimmung 1992 hielt ich mindestens einen Vortrag pro Tag.
SB: Es waren drei! Ich koordinierte damals alle Anfragen für die Reden. Und schaute, dass die Auftritte geografisch gut in der Schweiz verteilt sind.
CB: Aber die vielen Auftritte waren nötig! Bis heute sind wir nicht in der EU.
Ein lebensgrosser Hirsch aus Bronze blickt vom Garten ins Wohnzimmer. Die EWR-Abstimmung 1992 machte Christoph Blocher zum Jäger. Nachdem der damals 52-jährige SVP-Nationalrat praktisch im Alleingang das historische Nein erkämpft hatte, brach er zusammen. «Heute würde man von Burnout sprechen.»
Für drei Wochen zog sich Blocher in die Jagdhütte von SVP-Kollege und Unternehmer Walter Frey zurück. Völlig alleine. «Die Kinder und ich durften ihn nur besuchen», sagt Silvia Blocher. Sie schrieb ihm drei Menüs zum Kochen auf – etwa Spiegelei mit Risotto. Die Auszeit sei die beste Medizin gewesen. «So spart man Krankenkassenkosten», sagt er schelmisch grinsend. Noch heute geht der alt Bundesrat im Herbst sieben Tage auf den Hirsch. «Obwohl ich nicht mehr so gut auf den Hochsitz komme.»
Frau Blocher, kann Ihr Mann loslassen?
Er hat bereits losgelassen. Im Januar etwa hat er seinen Rücktritt als Redner bei der Albisgüetli-Tagung bekannt gegeben. Bis am Vorabend wusste ich nicht, ob er es wirklich durchziehen wird. Das war ein grosser Schritt.
CB: Mit der Ems-Chemie habe ich mein grösstes Unternehmen abgegeben. Bei der Politik habe ich mich aus den Leitungsgremien fast ganz zurückgezogen.
Aber im Hintergrund sind Sie noch aktiv?
Ich werde oft um Rat gefragt. Das ist so, wenn man Erfahrung hat.
Auch von Leuten ausserhalb der SVP?
Ja. Nur so viel: Justizminister Beat Jans ist es nicht. An seiner Stelle hätte ich in der ersten Woche bei mir als ehemaligem Asylminister angeklopft.
Das Haustelefon, das an Blochers Hemd baumelt, klingelt. Haushälterin Monica will wissen, ob die Gäste noch mehr Wasser oder Basler Läckerli brauchen. «Sie ist Portugiesin. Eine ganz Gute», sagt er. Silvia Blocher macht derweil das Fenster auf. Den Sommer verbringt das Paar am liebsten zu Hause in seiner Villa am Zürichsee. «Wenn die anderen am Gotthard stehen, ist es hier wunderbar ruhig», sagt Christoph Blocher. Im Winter sind sie häufig in Rhäzüns anzutreffen. Das Schloss, welches im Bündner Bergdorf hoch über dem Hinterrhein thront, gehört der Ems-Chemie. Christoph Blocher hat es über die Jahre liebevoll saniert, das Paar besitzt dort eine Wohnung.
Das Anwesen in Herrliberg haben die Blochers vor 27 Jahren gekauft. Zuvor wohnten sie im nahen Feldmeilen in einem kleineren Einfamilienhaus. «Mein Mann wollte damals nicht zügeln, er sagte: ‹Ich habe keine Zeit zu bauen.› Ich sagte: ‹Ich machs.›» 2018 erweiterten sie das Anwesen mit einem zusätzlichen Wohnhaus, der Gartenanlage, dem Büro und dem Lager für die Bilder. Über elf Millionen Franken kostete das Bauprojekt. Wieder ist es Silvia Blocher, die plant. «Allein ists einfacher.»
Herr Blocher, wenn Sie zurückblicken: Würden Sie alles nochmals genauso machen?
Politisch: ja. Unternehmerisch bin ich nicht sicher. Ganz verrückt war natürlich die Übernahme der Ems-Chemie. Heute hätte ich den Mut dazu wohl nicht mehr. Dass es geklappt hat, ist auch der Grossartigkeit meiner Frau zu verdanken. Sie hatte damals vier schulpflichtige Kinder zu Hause. Um den Kredit für das Unternehmen zu bekommen, das eigentlich pleite war, musste ich alles einsetzen: das Haus, den Garten, die Pension.
SB: Ich gab ihm zu bedenken: Was mache ich, wenn du plötzlich stirbst? Dann übernehme ich ein Unternehmen mit so viel Verlust. Was passiert mit den Kindern? Das können wir nicht machen!
CB: Ich erinnere mich noch genau. Wir sassen im Gartenhaus, es war neun Uhr am Freitagabend, am Samstag musste ich mich entscheiden. Du hattest Tränen in den Augen. Und recht. Aber ich erwiderte: Können wir denn 1500 Mitarbeiter auf die Strasse stellen? Unverhofft klingelte mein Bruder, der Hallauer Pfarrer, an der Tür. Das war Glück – oder Schicksal. Er hörte uns an, und am Schluss sagte er zu dir: Wenn einer ein Unternehmen kaufen will, nur um reich zu werden oder Karriere zu machen, darf er es nicht tun. Aber wenn er es machen muss, dann passiert ihm und der Familie auch nichts.
SB: Ich wusste, du musst es tun. Aber es war ein kritischer Punkt in unserer Ehe. Es hätte das Ende sein können.
1,6 Hektaren gross ist Blochers Anwesen, wie er beim Gang über die grüne Parkanlage erzählt. In der Mitte dreht ein Windrad in Papageienform. «Ein Mitbringsel von unseren Wanderferien in Merligen am Thunersee», erzählt Silvia Blocher. Natürlich sei es ein Luxus, dass sie die grosse Rasenfläche unverbaut lassen können. Während Christoph Blocher wochentags jeden Morgen seinen Aktenkoffer vom Wohnhaus über den in Schlangenlinien angelegten Kiesweg hinunter zum Büro zieht, kümmert sich Silvia Blocher um die Post («die meiste ist für meinen Mann»), das Haus und den Garten. «Eigentlich sagte ich Christoph vor unserer Heirat: Ich bin für alles zu haben, nur nicht für den Garten. Heute bin ich fast pedantisch.» Er wirft die Hände in die Luft. «Man kann mit dir hier gar nicht mehr spazieren, immer siehst du etwas zu tun!»
Wie harmonisch ist es im Hause Blocher?
SB: Politisch sind wir uns meist einig.
CB: Du bist teilweise gar noch auf der härteren, bewahrenden Linie. Im Alltag streiten wir vielmehr über Kleinigkeiten. Etwa sagt mir meine Frau am Morgen: «Nein, das kannst du nicht anziehen.» Dann entgegne ich: «Wieso legst du mir abends nicht die Sachen hin, die ich anziehen soll?»
SB: Wir chiflen, so würde ich das beschreiben. Mein Mann hat die Tendenz, immer alles ein bisschen anders zu verstehen, als man es sagt (lacht).
CB: Meine Frau ist gescheit und gleichzeitig sehr emotional. Das macht es für mich manchmal etwas schwierig.
Lange daure ein Streit bei ihnen nie, sagt Christoph Blocher auf dem Weg zum Poolhaus. «Das ist also nicht wie bei Gotthelfs ‹Geld und Geist›, als Christen und Änneli erst vor dem Schlafengehen Frieden machten.» Spätestens beim Znacht um 19 Uhr – nicht zu schwer und salzarm – habe man sich versöhnt. «Liebe braucht keine Erklärung», sagt er. Beim Essen sprechen sie über die Familie und die Politik. «Meine Frau ist nicht nur schön, sondern auch eine hervorragende Gesprächspartnerin und bringt eine andere Sicht ein. Bei so einem verrückten Leben, das ich geführt habe, ist das wichtig.» Sie habe die Familie zusammengehalten, während er sich ums Unternehmen kümmerte. «Ich sage stets augenzwinkernd: Dass meine Kinder recht rausgekommen sind, ist allein mein Verdienst. Ich war abwesend. Ich hätte sie vielleicht verzogen.» Er kenne Unternehmer, die viel Druck auf ihre Kinder ausgeübt hätten. Diese seien daran gescheitert.
Silvia Blocher setzt sich zu ihrem Mann, sie musste noch kurz ein paar abgestorbene Rosenknospen abschneiden. «Unsere Kinder haben von Anfang an mitbekommen, was ihr Vater macht. Den Sonntag widmete er stets der Familie. Er hat ihnen viel erzählt, auch von der Arbeit.» Blochers Kinder sind alle erfolgreich: Magdalena, 55, leitet seit 2004 die Ems-Chemie, Markus, 53, ist CEO des Chemieunternehmens Dottikon ES, Miriam, 49, ist Chefin des Basler Läckerli Huus, und Rahel, 47, führt die Geschäfte von Blochers Beratungsfirma Robinvest und betreut die Musikinsel Rheinau. Ausser Rahel Blocher haben alle Blocher-Kinder eigenen Nachwuchs. «Wir haben zwölf Enkel. Die Jüngste ist sieben und in der zweiten Klasse, der Älteste ist 23 und eben als Leutnant heimgekommen», erzählt Silvia Blocher. Kürzlich habe sie per Zufall erfahren, dass einer ihrer Enkel der Jungen SVP beigetreten sei.
Spüren Sie das Alter?
SB: Ja, ich werde schneller müde, habe etwas weniger Energie.
CB: Ich mache seit Kurzem einen halbstündigen Mittagsschlaf. Was ich merke: Ich bin vergesslicher geworden.
SB: Nicht bei politischen Inhalten. Da erinnerst du dich an jedes Detail.
CB: Ich hadere nicht mit dem Alter. Die schlaflosen Nächte, die ich als Unternehmer hatte, sind weg. Und ich habe mehr Freizeit, mehr freie Abende. Auch wenn es meiner Frau immer noch zu wenige sind.
Beschäftigen Sie sich mit dem Tod?
CB: Ja, wir reden immer wieder darüber. Es ist alles gegeben bei der Geburt, und es ist auch wieder alles gegeben beim Tod. Wenn es so weit ist, muss man schauen, dass es irgendwie geht. Angst vor dem eigenen Tod haben wir beide keine. Aber davor, dass der andere stirbt.
SB: Deine Mutter beschrieb es schön, nachdem dein Vater gestorben war. Sie sagte, der Mensch sei wie eine Kugel, alles sei rund. Und dann, wenn ein Partner stirbt, bricht die Hälfte weg.
CB: Ich frage mich natürlich, wie ich es mit dem Haushalt machen würde. Das ist nicht mein Gebiet. Ich könnte ja mal anfangen zu kochen.
SB: Ich kann dir ein paar Rezepte aufschreiben, so wie für das Jagdhaus.
Haben Sie Ihr Testament schon gemacht?
CB: Jedes Jahr wieder neu. Sofern noch etwas bleibt, wenn die SP als Regierungspartei 50 Prozent Erbschaftssteuer will.
Machen Sie sich da ernsthaft Sorgen?
Natürlich! Vor allem unser Unternehmen würde das betreffen.
Käme Exit für Sie infrage, Frau Blocher?
Eine schwierige Frage. Klar kann man sich Situationen vorstellen, wo ein begleiteter Freitod der letzte Ausweg ist. Aber es ist natürlich auch eine religiöse Frage, ob man das macht oder nicht.
CB: Wir haben beide eine Patientenverfügung unterschrieben, wie wir es haben wollen. Wobei es schwierig ist, in gesundem Zustand zu sagen, was man als kranker Mensch denkt.
Liebevoll nimmt Christoph Blocher das Bild, welches das Büblein Ruedi Anker auf dem Sterbebett zeigt, von der Wand. Seit Januar 2022 sind die Blochers Besitzer eines privaten Museums auf ihrem Grundstück in Herrliberg. Silvia Blocher konnte zuerst nicht so viel mit dem Hobby ihres Mannes anfangen. «Doch das erste Anker-Bild, das ich als Original gesehen habe, war für mich ein tiefes Erlebnis», sagt sie.
Später war sie es, die zusammen mit einem Architekten das Museum für die Sammlung konzipierte. Von den 600 Gemälden, die Blocher besitzt, präsentieren sie 200 in acht sternförmig angeordneten Räumen. «Mein Lieblingsfach war Geometrie», sagt Silvia Blocher, die vor ihrer Lehrerausbildung ein paar Semester Mathematik studiert hat. Mehrmals pro Jahr macht Blocher Führungen durch sein Museum – gratis. «Man kann sich per Mail bei uns melden. Aber die Warteliste ist sehr lang.»
Frau Blocher, wie gehen Sie mit dem Personenkult um Ihren Mann um?
Egal, wo mein Mann hinkommt, alle kennen ihn. Ich bin dann niemand, ich stehe daneben, aber ich beneide ihn nicht. Er muss zuhören, was die Leute bedrückt.
CB: Das sind ja keine billigen Fans, sondern Menschen, die Orientierung suchen. Das ist eine grosse Verantwortung, es kann ja auch sein, dass ich mal einen Fehler mache. Ich will ihnen mitgeben: Die Welt ist nicht verloren. Oder wie es Albert Anker sagte: Die Erde ist nicht verdammt.
Werden die Leute ohne Sie verloren sein?
Ich muss nicht selber für einen Nachfolger sorgen. Die Leute müssen halt selber schauen, wen es da noch gibt. Ich hoffe aber, dass meine Wirkung nach meinem Tod weitergeht. Aber da bin ich zuversichtlich. In den 80er-Jahren hiess es noch: Wenn Blocher nicht mehr da ist, fällt die Partei zusammen. Heute ist dem nicht mehr so. Ich sehe: Die Partei steht fest, es geht ihr gut – auch ohne mich.
Zu Beginn haben wir übers Loslassen gesprochen. Wenn die geplanten Abkommen mit der EU vors Volk kommen: Ziehen Sie nochmals in den Kampf?
Wenn es notwendig wird, gebe ich Vollgas. Wenn es nicht notwendig ist, lasse ich es bleiben.