Was im Büro von Claudia de Rham (46) neben einer vollgekritzelten Wandtafel mit Physikgleichungen sofort auffällt: der farbige Plastikball. «Das ist der Himmel. Die grünen und die gelben Farbtöne zeigen an, wie warm es ist. Das rote Band ist eine Galaxie. Wunderschön, oder?» Die Kosmologin ist ganz verzückt, wenn sie vom Himmel spricht. «Weil meine Eltern in der Entwicklungshilfe arbeiteten, bin ich als Kind viel umgezogen. Von Lausanne nach Peru, zurück in die Schweiz, dann nach Madagaskar. Der Himmel war meine Konstante. Er gab mir Halt.» Mit zehn beschliesst Claudia, ihm noch näher zu kommen. «Ich wollte Astronautin werden.» Ein Wunsch, der jeden Schritt ihrer Reise bestimmen sollte.
Sieben Uhr früh: Vom Küchentisch in Claudia de Rhams Reihenhäuschen im Londoner Stadtteil South Kensington sieht man durch eine Dachluke in den Himmel. «Mom, ich hatte gestern ein Physikprojekt», erzählt Luana (11) auf Englisch. Ihre Schwester Caliana (9) rollt die Augen: «Wir reden ständig über Physik!» Papa Andrew Tolley (47) lacht. «Das ist halt unser Job.» – «Ich möchte Doktor für Babys werden», wirft Amaliya (6) ein. «Und ich Wissenschaftlerin», sagt Caliana. «Ah, das dann doch», sagt de Rham amüsiert.
Die gebürtige Schweizerin gehört zu den bedeutendsten Kosmologinnen. Als Physikerin konnte sie die Gravitationswellen auf der Erde nachweisen – das sind jene Wellen, die Raum und Zeit um uns herum unmerklich stauchen und strecken. Und sie bewies, dass diese Wellen verebben können.
Von der Schönheit des Fallens
Damit forderte de Rham Einsteins Relativitätstheorie heraus. Dies brachte ihr zahlreiche Auszeichnungen ein. Ihr 2024 veröffentlichtes populärwissenschaftliches Buch «Die Schönheit des Fallens» wurde in neun Sprachen übersetzt.
Wie jeden Morgen begleiten sie und ihr britischer Mann die Kinder zur Schule, vorbei an edlen viktorianischen Wohnhäusern und berühmten Museen wie jenem für Wissenschaft. «Maman, warum hast du es eigentlich nicht nochmals als Astronautin probiert», fragt Caliana, diesmal auf Französisch. «Ich durfte nicht wegen meiner Krankheit.» – «Das ist aber nicht fair!», so die Tochter. De Rham zuckt mit den Schultern. «Manchmal ist das Leben nicht fair. Aber Scheitern gehört dazu. Und wir lernen daraus.»
Astronautentraum geplatzt
2009 war Claudia de Rham, inzwischen Physikforscherin an der Universität in Ontario, Kanada, ihrem Traum von der Entdeckung des Himmels ganz nah. Bei der Astronautenauswahl der Europäischen Weltraumagentur setzte sie sich gegen 8000 Konkurrenten durch und kam unter die letzten 40. Doch dann wurde sie positiv auf latente Tuberkulose getestet – ein Mitbringsel aus ihrer Zeit in Madagaskar. Krank ist sie bis heute nicht, doch in ihr schlummern die Bakterien. «Natürlich war das hart, immerhin habe ich Jahre meines Lebens in den Traum investiert. Doch ich erkannte: Auch als Wissenschaftlerin kann ich mit der Schwerkraft spielen und sie aus der Reserve locken.»
«Claudia ist komplett angstlos»
De Rham und Tolley verabschieden ihre Kinder, dann gehen sie gemeinsam zum wenige Minuten entfernten Imperial College. Die Hochschule gehört zu den renommierten Universitäten der Welt. Beide dozieren und forschen hier zum Thema Kosmologie. «Es ist wohl keine Überraschung, dass ich eine tiefe Bindung zu einer der wenigen Seelen auf dem Planeten knüpfte, die meine Gedanken und Ideen teilen kann», sagt sie lachend.
«An Konferenzen bitten mich die Leute manchmal, ihnen Kaffee zu holen»
Claudia de Rham
Die beiden lernten sich vor 23 Jahren an der Universität von Cambridge kennen. In benachbarten Büros untersuchten sie für ihre Doktorarbeit, wie sich zusätzliche Raumdimensionen auf die Entstehung und den Ursprung des Universums auswirken können. «Was mich damals schon beeindruckte», sagt Tolley, «Claudia ist komplett angstlos.»
Dann erzählt er, wie sie damals auf dem Campus auf ein ungesichertes Dach gestiegen sei, um einen Ball zu holen – keiner der Männer traute sich. «Wenn sie etwas will, ist sie unglaublich entschlossen.» – «Man könnte auch sagen stur», ergänzt sie augenzwinkernd. Dazu passt, dass sie für ihren Astronautentraum in Kanada bei minus 20 Grad Flugunterricht nahm, sich zur Sporttaucherin ausbilden liess, täglich ihre Augenmuskeln trainierte und programmieren lernte.
«Falsches Klischee von Physikern»
Im Vorlesungssaal steckt de Rham ihre Haare zusammen. Sie zeichnet eine Frau und eine Weltraumstation an die Wandtafel. «Das ist Taylor Swift, die singt.» Die rund 50 jungen Menschen Anfang 20 – die Mehrheit davon männlich – lachen. Der Popstar dient de Rham als Beispiel für eine Berechnung, wie sich die Frequenz der Stimme in der Höhe verändert.«Das liegt natürlich an der Schwerkraft.»
Noch heute wird die Physikprofessorin manchmal für eine Studentin gehalten. «Ich bin halt etwas crazy», sagt sie und zeigt ihre Turnschuhe, auf deren Sohle «rocket dog», Raketenhund, steht. Dann wird sie ernst und erzählt von ihren Erfahrungen als Frau in der Physikwelt. Etwa, wie sie bei Vorstellungsgesprächen in der Schweiz über die Pläne ihres Mannes befragt wurde statt über ihre Qualifikationen. «An Konferenzen bitten mich die Leute manchmal, ihnen Kaffee zu holen.
«Was mich an Claudia schon immer beeindruckte: Sie ist komplett angstlos»
Ehemann Andrew Tolley
Dass immer noch wenige Frauen Physik studieren, liege aber auch am abschreckenden Klischee der Wissenschaftler.«Wir Physiker sitzen nicht mit zerzaustem Haar jahrelang alleine im Kämmerchen.» Bei ihrem Beruf gehe es um Austausch, Kreativität und Leidenschaft. «Der Prozess, die Natur zu verstehen, macht Spass!» GPS etwa sei nur dank der allgemeinen Relativitätstheorie möglich – und künftig könnten ihre Untersuchen dazu beitragen, neue Exoplaneten zu entdecken und so die Suche nach ausserirdischem Leben voranzubringen.
De Rham sieht sich als Weltbürgerin, vermisst aber die Aussicht in die Schweizer Berge. Dafür kann sie in London spätabends, wenn die Kinder im Bett sind, vom Computer am Küchentisch Richtung Dachluke blicken – in den Himmel.