Vor einem halben Jahrhundert hing in meinem Kinderzimmer ein Poster der Schweizer Fussballnati. Die Helden jenes Teams hatten so wohlklingende Namen wie Daniel Jeandupeux, Pierre-Albert Chapuisat oder Mario Prosperi.
Bei Länderspielen weinte ich als Bub, wenn die Schweiz unterging. Und sie ging meistens unter. Meine ganze Kindheit und Jugend war fussballerisch geprägt von dem, was man in der Schweiz die «ehrenvolle Niederlage» nannte.
Erst 1994, nach langen Jahren des Scheiterns, qualifizierte sich eine Schweizer Nationalmannschaft wieder für ein grosses Turnier. Ein paar Dinge hatten sich verändert, zum einen spielten immer mehr Schweizer Profis in grossen Klubs im Ausland, zum andern begannen hungrige Instinktfussballer, deren Eltern in die Schweiz eingewandert waren, an die Tür der Nati zu klopfen. Die neuen Schweizer trugen Namen wie Kubilay Türkyilmaz oder Ciriaco Sforza, und sie bereicherten den Schweizer Fussball durch ihre Andersartigkeit.
Mit den Legionären und den Secondos war die Schweiz Mitte der 1990er-Jahre zu einem Fussballland geworden, das hin und wieder über sich hinauswuchs und starke Gegner schlagen konnte. Aber diese Siege blieben rar, und wenn die Schweiz in einer Qualifikationsgruppe mit einer ganz grossen Fussballnation eingeteilt war, dann wussten wir, dass wir bestenfalls auf Rang zwei hoffen durften.
Bei der Auslosung für die Qualifikation zur WM 2022 wurde die Schweiz einer Gruppe mit Nordirland, Bulgarien, Litauen und Italien zugelost. Uns langjährigen Fans war klar, dass es den Schweizern in dieser Gruppe höchstens zu Rang zwei hinter Italien reichen würde. Die andern Gegner lagen in unserer Reichweite, aber Italien ist als vierfacher Weltmeister und amtierender Europameister eine fussballerische Supermacht. Daran war nichts zu rütteln.
Als dann noch Erfolgstrainer Petkovic mitten in der Qualifikation absprang und etliche Leistungsträger verletzt waren, glaubten selbst krankhafte Fussballoptimisten wie ich nicht mehr an einen möglichen Gruppensieg.
Doch dann tauschte Murat Yakin den Trainerjob im beschaulichen Schaffhausen mit jenem der Nati. Der neue Trainer, dem schon als Spieler eine lockere Genialität anhaftete, war von Anfang an cool wie ein Vanille-Eis und schlau wie ein Bauer. Er verlor öffentlich kein Wort über die Stärke Italiens. Er lamentierte nie über die lange Verletztenliste. Er baute ein Team, das mit Überzeugung, Mut und Leidenschaft in jedes Spiel stieg und letztlich die Weltmacht Italien verdientermassen hinter sich liess. Der ganz grosse Exploit, auf den ich als Fan ein halbes Jahrhundert vergebens gewartet habe, ist endlich Wirklichkeit geworden.