Coole Tante auf dem Weg zum Rockstar

Ein unscheinbarer Spielplatz in Luzern. Die Vögel zwitschern dem nahenden Frühling entgegen. Saite für Saite stimmt Seraina Telli (34) ihre akustische Gitarre. Nur eine Strassenbreite trennt sie von ihrer Dreieinhalbzimmerwohnung, in der sie seit 2019 lebt. «Ich bin so weit», sagt sie. Wie aufs Stichwort gesellen sich ihre Mutter, ihr Vater, vier ihrer Geschwister sowie zwei Neffen und drei Nichten dazu. Die lebhafte Truppe ist extra für das Fotoshooting mit der Schweizer Illustrierten gekommen. Mit kraftvoller, rauer Stimme stimmt die Musikerin ihren Hit «Song for the Girls» an – unterstützt vom stolzen Familienchor.

Momente wie dieser sind selten. «Eigentlich singen wir nur zu Weihnachten oder an Ostern zusammen. Manchmal sehen wir uns monatelang nicht», verrät Telli. Sie ist das dritte von sechs Kindern und bezeichnet sich als «coole Tante». Einerseits weil ihre Familie nicht in direkter Nähe lebt, anderseits weil sie viel unterwegs ist.

Seraina Telli zählt zu den aufstrebendsten Musikerinnen des Landes. Ihr Debütalbum «Simple Talk» erreichte Platz zwei der Schweizer Albumcharts – direkt hinter Popstar Taylor Swift. Auch in den US-amerikanischen Radiocharts konnte sich Telli behaupten. Mit ihrem zweiten Album «Addicted to Color» stieg sie 2023 auf Platz eins der Schweizer Albumcharts ein. Nun erschien ihr drittes Album «Black ʼnʼ White Sessions», das vierte folgt im Herbst. Seraina Telli: «Ich bin glücklich, dass es so gut läuft. Es steckt viel Aufwand dahinter.»
 

Auf der Bühne mit Bryan Adams

Seit zehn Jahren arbeitet Telli, die bis 2019 Teil der Metalband Burning Witches war, an ihrer Karriere. Ihr grösster Coup: 2024 durfte sie als Support Act für Weltstar Bryan Adams in Fribourg eröffnen. «Das war eine der aufregendsten Shows, die ich je gespielt habe.» Hat sie Bryan selbst kennengelernt? Seraina lacht mit kratziger Stimme. «Ja, ich war so nervös, wusste nicht, ob ich ihn erkennen würde.» Plötzlich sei er zu ihr gekommen und habe sie umarmt. «Es ehrt mich sehr, dass er meine Musik toll findet!»

Schon als Kind spielte Seraina Klavier, träumte davon, mit Popstar Alicia Keys auf der Bühne zu stehen. Das Talent ist der gelernten Coiffeuse quasi in die Wiege gelegt: Ihr Papa spielt Bass, eine ihrer Schwestern singt ebenfalls, ihr Onkel ist Profi-Gitarrist. «Es war auf jeden Fall nie langweilig in unserer Familie – vor allem mit so vielen Geschwistern», erinnert sich Telli.

Wünscht sich die bekennende Einhorn- und Duftkerzenliebhaberin, die seit sieben Jahren mit ihrem Freund zusammenlebt, ebenfalls eine Grossfamilie? Sie lacht. «Nein. Ich kann mir aber gut ein, zwei Kinder vorstellen.» Angesprochen auf ihr eigenes Aufwachsen, wird die selbstbewusste Sängerin plötzlich ruhiger. «Ich war früher sehr schüchtern, eine absolute Träumerin», sagt sie und führt aus: «Mit meiner Art war ich ein gefundenes Fressen für fiese Kids, die mich gemobbt haben. Das war nicht einfach für mich.»

Beim Verarbeiten dieser Momente half ihr primär die Musik. Auch heute thematisiert sie Dinge in ihren Songs, die sie beschäftigen. «Beispielsweise begegnen viele Leute musizierenden Frauen noch immer mit Vorurteilen und Skepsis», so Telli, die einen Bachelor of Arts in der Tasche hat. Teilweise sei dies selbst verschuldet. «Wir Frauen haben oft das Gefühl, dass wir nicht schön genug sind. Damit müssen wir aufhören.» Deshalb will sie auffallen. Ein Vorbild sein. Bunt und schrill.

«Ich sehe mich als Rebellin und mache auf der Bühne, was ich will.» So auch bei ihrer aktuellen Europa-Tournee. Ihr grösster Wunsch? «Ich will auf die Bühnen der Welt. Vielleicht mit Pink oder Lady Gaga – das wäre cool!»
Doch vorerst nimmt sie ihre Gitarre und stimmt mit ihren Liebsten ein neues Spielplatzständchen an, was sie mindestens so glücklich macht.