Die Räume sind lichtdurchflutet, die grossen Fenster bieten Blick auf den Umschwung. Ein kleines Paradies mitten in Flawil SG können Sandra (33) und Daniel Bösch (34) ihr Zuhause nennen. «Ich liege oft hier vor dem Fenster und denke nach», sagt der Unspunnen-Sieger 2011 und zieht seine Füsse aufs Sofa hoch. Am linken Schienbein wird eine lange Narbe sichtbar. Sie stammt von einer Knochentransplantation, die der ehemalige Spitzenschwinger (106 Kränze, 23 Kranzfestsiege) im März hatte. Ausser Haus geht er an Krücken. «Mein Körper muss mit dem Spenderknochen noch an- und verwachsen.» Zwei Jahre könne das dauern. «Aber langsam gehts besser. Früher habe ich alles selbst gemacht, und nun war ich lange die ‹Chasch mer, gisch mer, holsch mer›-Person. Schwierig für mich.»
Sommer 2021. Daniel Bösch bemerkt, dass die Schwellung an seinem Schienbein bei Berührungen schmerzt. «Bis dahin dachte ich, das ist wohl ein Überbein, wie ich es als Kind hatte.» Beim Arztbesuch geht Bösch «wie immer vom Guten aus». Doch am 25. Juni bestellt der Arzt seinen Patienten Bösch mit dessen Frau zu sich. Diagnose: Knochenkrebs! «Ich war geschockt, sass da und wusste, dass ich innerhalb von 48 Stunden mein Leben umplanen muss.» Beim Paar fliessen Tränen. Ein Waldspaziergang hilft, Gedanken und Gefühle zu ordnen. «Da haben wir uns geschworen, dass wir uns immer sagen, was wir denken und fühlen», erzählt Sandra.
Drei Tage später liegt Daniel Bösch auf der Onkologie im Kantonsspital St. Gallen. Er erhält einen doppelten Portkatheter für die erste von sechs Zyklen à je drei Chemotherapien. Fortan verbringt er jeden Monat drei Wochen im Spital, eine Woche daheim. Früh beginnen die Haare auszufallen. Sandra hilft ihm, den Kopf zu rasieren: «Alle wichtigen Schritte machten wir gemeinsam», sagt sie.
Auf leisen Pfoten schleicht Simba durch den Garten. Seit einem Jahr gehören der Kater und Schwester Kiwi zur Bösch-Familie. «Simba habe ich ausgesucht», sagt Daniel Bösch. «Von Anfang an legte er sich auf mein Bein – nur auf meines, und nur auf das, in dem der Krebs war.»
«Innerhalb von 48 Stunden musste ich mein Leben umplanen»
Daniel Bösch
Zu Beginn meistert sein Körper (193 cm Körpergrösse, 140 Kilo) die Chemotherapien gut. Am 8. September gelingt es den Ärzten, den ganzen Tumor operativ zu entfernen. «Seit diesem Tag gelte ich offiziell als krebsfrei.»
Die Krebserkrankung ist das eine, die Nebenwirkungen aber sind eine andere Herausforderung. Und davon erlebt Bösch viele: «Ich hatte weiterhin Chemotherapie, es standen noch vier Zyklen an – und irgendwann, wenn man den ganzen Tag Zeit zum Nachdenken hat …» Bösch hält inne. «Das Spitalbett ist nicht gerade für meine Postur gemacht. Tat mir etwas Neues weh, dachte ich sofort, der Krebs ist zurück – irgendwann rutschte ich in eine Depression.» Damit nicht genug: Im Oktober erleidet er daheim eine Lungenembolie. Vermutlich eine Thrombose durchs viele Liegen. Per Ambulanz gehts am Sonntag erneut ins Spital.
Auf dem Tisch steht eine Wasserkaraffe mit Zitronen und Pfefferminze – «aus dem Garten», sagt Sandra. Sie offeriert selbst gebackene Chriesi-Wähe. Das Kochen verbindet den Metzger und die Software-Sachbearbeiterin. Zum Zeitpunkt der Diagnose hätte sie eine neue Stelle antreten sollen. «Ich sagte den Job ab, um mich voll um Daniel und unsere Metzgerei in Oberbüren zu kümmern, die wir erst vor einem Jahr übernommen haben.» Sandra hilft in der Produktion, vakuumiert Bratwürste, stellt die hauseigenen Grill-Cordons-bleus her. Über Mittag fährt sie jeweils zu ihrem Mann. Beiden reicht ein Blick, um zu sehen, wie es dem anderen geht. «Ich hörte ständig, dass ich auch auf mich schauen soll. Doch wie, wenn es ihm schlecht geht?», fragt sie. «Mir geht es nur gut, wenn es Dani gut geht. Unser gemeinsames Ziel war von Anfang an, gesund zu werden.»
November 2021. Böschs Nieren versagen. Deshalb erhält er am 28. Dezember ein neues Chemomittel – und erleidet einen allergischen Schock. «Hätte ich wegen Krebs sterben müssen, dann an diesem Tag.» Die Ärzte müssen ihn reanimieren, Bösch sieht sich bereits ausserhalb seines Körpers und weiss in dem Moment: «Entweder der Krebs oder ich – in meinem Körper hats nur Platz für einen.»
«Entweder der Krebs oder ich – in meinem Körper hats nur Platz für einen»
Daniel Bösch
Die intensive Erfahrung holt ihn aus seiner Depression. «Konnte ich zuvor kaum ein halbes Weggli essen, hatte ich am Tag danach Bärenhunger.» – «Ich merkte am Telefon, dass deine Stimme viel stärker ist und du wieder einen Willen entwickelt hast», bestätigt Sandra. Zwei Tage später kann er das Krankenhaus verlassen.
Unter dem riesigen Sonnenschirm – sein Preis vom St. Galler Kantonalen 2016 – geniesst das Paar seine Oase. An eben diesem heimischen Schwingfest zeigte sich Daniel Bösch kürzlich erstmals wieder öffentlich. «Es war streng, emotional, aber schön.» Mittlerweile gibt es Tage, da gelten bei beiden der erste und auch der letzte Gedanke nicht mehr dem Krebs. «Ich freue mich, wenn das Lachen wieder mehr wird», sagt er. Denn auch seine Frau hatte ihren Zusammenbruch, und zwar im April, als er zur Reha ging und sie seit Monaten erstmals durchatmen konnte. «Daniel sagte mir zuvor, dass er auf den Moment warte, in dem ich mich bei ihm fallenlassen könne.»
Daniel Bösch hat nicht das typische Alter für Knochenkrebs. «Es ist immer hart, über all das nachzudenken, aber es ist jetzt ein Teil von meinem Leben. Und man soll nicht alles totschweigen, vor allem nicht die Gesundheit», sagt er. «Ich will Mut machen, will, dass sich auch junge Leute untersuchen lassen.» Als Schwinger sei er selbst nicht wegen jedem Schmerz zum Arzt gegangen. «Wenn es ums Leben geht, ist es noch einmal was ganz anderes. Diese mentale Stärke lässt sich nicht antrainieren.»