Oft wird Daniel Yule gefragt, weshalb er immer noch zu Hause wohne. «Aber das erklärt sich von selbst, oder nicht?», sagt der damals 25-Jährige und breitet die Arme zwischen den tief verschneiten Tannen aus. Die «Schweizer Illustrierte» besuchte ihn kurz vor seinem Einsatz an den Olympischen Spielen 2018.
Zehn Einwohner hat Branched’en-Haut bei La Fouly im Walliser Val Ferret, fünf davon stellt die Familie Yule. Erholungsfaktor: maximal. Perfekt also, wenn man wie Yule als Skifahrer ständig in der halben Welt unterwegs ist. Seit er zu Beginn des Jahres 2018 in Kitzbühel und Schladming endlich den Sprung aufs Weltcup-Podest geschafft hat, ist er zudem gefragt wie nie.
Yule ist hier im Dreiländereck zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz geboren und aufgewachsen. Er bezeichnet sich als Walliser durch und durch – dabei besitzt er den Schweizer Pass erst seit 2008. Mutter Anita ist Schottin, Vater Andrew Engländer. Dieser entdeckte La Fouly bereits 1967 als 18-Jähriger, als er seinen Französisch-Sprachaufenthalt mit Skitouren kombinieren wollte. Zwar studierte und arbeitete er danach wieder in Grossbritannien, doch es zog ihn immer wieder zurück ins Dörfchen im Mont-Blanc-Gebiet, wo er als Lehrer arbeitete. Sport- und Englischlehrerin Anita hingegen machte eine Skireise ihrer Schule mit – und lernte in La Fouly Andrew kennen. 1988 kauften sie das Haus, in dem sie erst ein Bistro führten – heute ist es das Wohnhaus der Familie.
Daniel ist das mittlere Kind – Bruder Alastair, 27, ist Skilehrer in Verbier, die jüngere Schwester Vanessa wird Ergotherapeutin. Yule ist ein überlegter Typ, er durchdenkt seine Entscheidungen gerne und möchte wissen, welcher Zweck hinter einer Übung oder einer Kritik steht. Deshalb fiel es ihm auch nicht ganz leicht, nach der Matur ganz auf den Sport zu setzen. Die Universität reizte ihn ebenfalls; er ist neugierig, lernt gerne und hat sich während der Schule mit anderen Klassenkameraden zu Höchstleistungen angetrieben.
Um eine Option zu haben, falls eine Verletzung seine Skikarriere vorzeitig stoppen sollte, absolviert Yule nun ein Fernstudium in Wirtschaft. «Die Bücher kommen mit an die Olympischen Spiele», sagte er kurz vor der Abreise nach Pyeongchang. «Aber nur fürs Gewissen.» Unterwegs im Skizirkus, lerne er kaum, vielleicht vier Tage im vergangenen Winter.
Dennoch besteht er alles ohne Schwierigkeiten. «Wenn Daniel ein Problem hat, analysiert er es und findet eine Lösung», sagt Andrew über seinen Sohn. «Früher ging er eher noch mit dem Kopf durch die Wand.» Als er an seinem fünften Geburtstag sein erstes Skirennen bestreitet, wird er im Ziel disqualifiziert, weil er die Tore ignoriert hatte. Als Kind treibt der Kitesurf- und Squash-Fan viel Sport, ist zwar nicht der Beste, mag es aber nicht, geschlagen zu werden. Die Lust, sich mit anderen zu messen, soll er von seiner Mutter haben, die früher wettkampfmässig schwamm und Basketball spielte. Von Verbissenheit hingegen ist dem Single nichts anzumerken: Er ist freundlich, offen – und dass er auch Humor hat, erklärt sich bei seinen Wurzeln von selbst.
Yule ist vielleicht nicht das grösste Talent des Schweizer Skisports, hat sich der Weltspitze über die Jahre aber in kontinuierlichen, kleinen Schritten genähert. Bis er nun in den letzten Slaloms vor den Olympischen Spielen hinter den zurzeit fast unschlagbaren Marcel Hirscher und Henrik Kristoffersen zweimal Dritter wurde.
Einer der Gründe, weshalb er sich so gut entwickelte, liegt im starken Team-Zusammenhalt der Slalomgruppe. Unter Trainern, die sie seit vielen Jahren kennen, verbesserten sich auch die anderen Walliser, Ramon Zenhäusern und Justin Murisier, sowie der Berner Luca Aerni so, dass sie mit den Besten mithalten können. «Wir verlieren keine Energie mit negativen Gedanken», stellt Yule simpel fest. Wenn etwas nicht passt, werde es angesprochen. Und bei allem Plausch wisse man, wann harte Arbeit angesagt sei. «Ich freue mich auf jeden Zusammenzug.»
Auch wenn das bedeutet, das gemütliche Daheim im Wallis zu verlassen. Branche-d’en-Haut liegt ein paar Kilometer vor der Sackgasse in La Fouly. Das Dorf ist einer der wenigen Ferienorte in der Schweiz, die im Sommer mehr Touristen-Übernachtungen verzeichnen als im Winter. Schuld daran ist der Rundwanderweg Tour du Mont Blanc, der dort haltmacht. Und ein idyllischer Campingplatz, der mehrheitlich von Holländern besucht wird.
Familie Yule machte früher Campingferien in Südfrankreich. Oder sie ging vom Haus bloss auf die andere Flussseite zelten, um den Abenteuerdurst der Kinder zu stillen. Noch heute liebt Daniel das Campen. «Bei jedem Wetter draussen zu sein und sich ständig mit etwas zu beschäftigen, ohne Fernseher, das gefällt mir.»