«Hey, Schatz, ich habe auf dich gewartet!», ruft Esther Gemsch, 67, und fällt Stefan Kurt, 63, sofort um den Hals, als er das Café des Pyrénées in Bern betritt. Sie strahlen. Kurt: «Guet gsehsch us!» Beide Schauspieler sind in Bern aufgewachsen und haben in ihren jungen Jahren Zeit im «Pyri» verbracht. «Mit Polo Hofer ‹hei mer aube gchüblet›, ich musste viele Appenzeller degustieren», erinnert sich Gemsch, während sie ihre Boots gegen silberne Sandaletten eintauscht – «meine Füsse müssen atmen können, sonst kann ich es nicht.» Stefan Kurt schaut kurz aus dem Fenster: «Ich habe gleich nebenan im ‹Ringgenberg› als Kellner gejobbt – etwa sechs Wochen. Es hat mich viel Respekt gelehrt.» – «Und weisst du, wo ich serviert habe mit 20? Im ‹Ryffligässli›», sagt sie. «Gell, wir trinken ein Glas Wein?»
«Das heutige Bern hat nichts mehr mit mir zu tun. Ich empfinde eine Hassliebe»
Esther Gemsch
Beide sind früh aus der Stadt Bern geflüchtet, um sich kreativ entfalten zu können. Das Heimkommen und die erste Zusammenarbeit für den Kinofilm «Die goldenen Jahre» (ab 27. Oktober) muss mit einer Flasche Epesses gefeiert werden. «Jetzt sitzen wir hier, wir zwei zusammen, wer hätte das gedacht?», sagt Gemsch und klatscht in die Hände. Im Film von Drehbuchautorin Petra Volpe («Die göttliche Ordnung») und Regisseurin Barbara Kulcsar («Nebelgrind») spielen Esther Gemsch und Stefan Kurt das Ehepaar Waldvogel, das nach der Pensionie-rung des Mannes realisiert, dass ihre Zukunfts- pläne nicht mehr übereinstimmen. Peter will end-lich ausschlafen und Alice die Welt entdecken. «Ein Glücksfall, etwas zu spielen, das uns angeht. Wir sind im richtigen Alter», sagt Stefan Kurt. «Nur hört das Schauspielleben nie auf. Manchmal wird eine 80-jährige Frau für eine Rolle gesucht.» – «Genau, meine Zeit kommt erst», sagt Gemsch. «Für mich ist sowieso alles, was ich gern mache und liebe, keine Arbeit.» – «Du, Petras Eltern wohnen übrigens in Suhr, genau wie ich. Unsere Vorlage!» – «Nein, das gibts ja nicht!»
Vor drei Monaten ist der zweifache Adolf-Grimme-Preisträger Stefan Kurt («Der Schattenmann», «Der Verdingbub») nach gut vier Jahrzehnten in Deutschland mit seinem Mann Peter zurück in die Schweiz, genauer nach Suhr AG, gezogen. «Wir sahen uns in die Augen und fragten uns, wo wir alt werden wollen. In Berlin?» Die Antwort war klar, das Paar sehnte sich nach mehr Natur. «Die Frage war nur, ob wirs uns leisten können», sagt Kurt. «Grad so.» Als eine der ersten Taten meldete der «Papa Moll»-Darsteller die Ehe, die das Paar 2019 «ganz schmucklos im Bürgeramt von Berlin» schloss, seinem Heimatort Roggwil BE. «Ich glaube, wir waren die Ersten. Zwar liessen wir unsere Partnerschaft schon in den 90ern eintragen, aber ich finde den Namen blöd. Ich sage lieber: Das ist mein Mann.»
«Eingetragene Partnerschaft, den Namen finde ich blöd. Ich sage lieber: Das ist mein Mann»
Stefan Kurt
«Schau, schau, hier! Das war ein Restaurant mit Stil, das war ‹le vieux style de Berne›. Jesses Gott», sagt Esther Gemsch und schaut in eine Boutique statt ins «Du Théâtre». «Ich habe auch noch viele Erinnerungen an das Lokal. Erinnerst du dich noch an Käti B., die Gerantin?», fragt Stefan Kurt. Arm in Arm schlendern sie durch die Gassen, gehen mit ihren Erinnerungen spazieren. Gemsch: «Das heutige Bern hat mit mir nicht mehr viel zu tun. Nichts ist mehr so, wie es war. Ich empfinde eine Hassliebe.» – «Ich bin … wir sind aber auch anders, und das ist doch gut so», erwidert Kurt, den es fürs Theater früh wegzog. Viele Künstler, verrückte Leute, seien aber in Berner Beizen hängen geblieben. «Bern meinte zu diesen Leuten, sie sollen am Boden bleiben. Diese Künstler haben angefangen zu trinken und blieben für immer dort.» – «Wahnsinnige Talente», sagt Gemsch. «Es heisst stets, man soll bescheiden sein. Die Nivellierung gegen unten ist gut. Alles, was über diesem Band ist, will man hier nicht. Das ist nicht nur in Bern so, Stefan. Wir hatten einfach unsere Ausbrüche hier, wollten unsere Träume verwirklichen und wurden zurückgehalten.»
In den 70er-Jahren verbringt Esther Gemsch («Schweizer Hel-den», «Lüthi und Blanc»), die bereits mit 16 das Elternhaus verliess, die Nächte mit Künstlern wie Polo Hofer. «Wir zogen um die Häuser.» Die Mundart-Legende ist es denn auch, die die Jungschauspielerin – damals noch Esther Christinat – nach ihrer Rolle im belgischen Film «Rue haute» dem Regisseur von «Kleine frieren auch im Sommer» für die Hauptrolle vorschlägt. National bekannt wird sie später als Lisbeth Rohner in der SRF-Serie «Lüthi und Blanc» – daneben zieht sie drei Töchter gross. Seit der Trennung von ihrem dritten Ehemann 2018 lebt Gemsch alleine in einer 48-Quadratmeter-Wohnung in Zürich – ohne Bilder an der Wand. «Ich kann sehr gut loslassen, brauche nicht viel. Ich habe schon als kleines Kind gelernt, dass es keine Sicherheit gibt, nichts ist für immer.»
«Hast du die Fenster gesehen? Warst du mal drin?», fragt Esther Gemsch vor dem Berner Münster. Kirchlich hat die Agnostikerin nie geheiratet. Stefan Kurt ist reformiert aufgewachsen und heute konfessionslos. «Komm, lass uns ein Kerzli anzünden für alle, die nicht mehr hier sind», sagt er. Seine Mutter ist im Alter von 66 Jahren verstorben. «So alt, wie ich bin, verrückt», sagt Gemsch. «Zu Hause wurde übrigens früher ab und an von euch erzählt.»
«Alleine alt zu werden, war nie mein Ziel. Jetzt bin ich beides»
Esther Gemsch
Gemsch und Stefan sind sich schon als Kinder begegnet. «Unsere Väter haben zusammen und über Jahrzehnte in der Zürich-Versicherung am Eigerplatz in Bern gearbeitet», erzählt er. «Genau wie Peter, meine Rolle im Film.» – «Ist das nicht fantastisch! Ich weiss noch, wie ihr zu uns auf Besuch gekommen seid und wir im Garten ‹zeltlet› haben. Ich war so verliebt in deinen Bru-der», sagt Gemsch. Umso mehr freuts die zwei, dass sie lieber spät als nie beruflich zusammenarbeiten konnten. Mit ihren Filmfiguren verbindet sie vor allem die Frage, was sie noch erleben wollen, und das Herausfinden, wer sie im Alter sind. «Der permanente Druck, jung sein zu müssen – hört mir auf damit! Ich bin nicht jung, ich bin alt», sagt Gemsch. «Das Alter ist eine mega Chance!» Die Kinder seien aus dem Haus, die drei Grosskinder gesund, zudem habe sie keine überflüssigen Verpflichtungen mehr. «Ich kann morgens die Haustür zumachen, Schlüssel drehen und frei entscheiden, wohin ich will.»
Stefan Kurt nickt. «Ich bemerke meine Qualitäten von früher: meine kindliche Seite, Spielfreude, Neugier und meinen Humor.» – «Grossartig! So konnte ichs bisher nie ausdrücken, doch ich fühle mich auch wieder so wie früher, als ob sich ein Kreis schliesst», sagt sie. «Aber ich glaube nicht, dass es je mein Wunsch gewesen ist, alleine alt zu werden. Jetzt bin ich beides.» In einer Beziehung wachsen und alt werden zu können, «das ist ein unerhörtes Geschenk».
In der Dämmerung gehts durch die Junkerngasse. «Ich habe so Freude mit dir durch diesen Film und durch diese Gassen zu lau- fen. Ich schätze dich dermassen als Kollegen, du bist so ein Schätzi.» – «Jetzt werde ich rot», sagt Stefan Kurt und sieht Richtung Nydeggbrücke. «Im Nydegg-Chileli haben meine Eltern geheiratet, ‹ou e schöne Egge vo Bärn›.»