Hinter den grossen Toren des Stalls schlummert ein besonderer Schatz: ein alter Bauernwagen. «So schön», sagt Sängerin Bibi Vaplan (44) begeistert, als sie ihn sieht. Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, das Holz ist brüchig, die Eisenketten rostig. Doch einmal pro Jahr erwacht der Bauernwagen trotzdem aus seinem Schlaf. In Valchava, das zur politischen Gemeinde Val Müstair gehört, findet seit 2006 jeweils am ersten Sonntag im Oktober das Erntedankfest statt, auf rätoromanisch «festa da la racolta».
«Ein ganz einfaches Fest mit einem kleinen OK, aber verbunden mit vielen Vereinen, die mitmachen», sagt OK-Präsident David Spinnler (52). «Am Vorabend des Fests schiessen plötzlich bis zu 40 Stände aus dem Boden. Das wäre ohne die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer nicht möglich. Wir haben ein Budget von rund 10 000 Franken. Also wahrscheinlich das am einfachsten organisierte Volksfest der Schweiz.» Bei gutem Wetter zieht das kleine Volksfest immerhin bis zu 5000 Besucherinnen und Besucher ins Tal.
Das Heimweh etwas lindern
Am Festtag ist das ganze Dorf geschmückt, die Vereine organisieren Festwirtschaften, und die Gäste flanieren durch das Dorf. «Ein wichtiger Aspekt ist, dass sich an diesem Fest jeweils viele Heimweh-Münstertalerinnen treffen, die alle im Unterland leben», sagt David Spinnler. «Viele freuen sich auf diesen Tag, weil sie sich dann wiedertreffen.»
Musikerin Bibi Vaplan kommt aus dem nicht weit entfernten Unterengadin. «Am Erntedankfest war ich noch nie – aber das hole ich sicher nach. Mir gefällt die Idee, die Ernte und alte Bräuche zu feiern», sagt sie. Bis zum grossen Fest bleibt der alte Bauernwagen noch im Stall. «Es ist wichtig, dass er geschützt gelagert ist, sonst würde er das wahrscheinlich nicht mehr lange mitmachen», sagt David Spinnler. «Und er gehört eben schon dazu.»
Seit 2006 findet am ersten Sonntag im Oktober das traditionelle Erntedank-fest statt – «la festa da la racolta». Das Fest beginnt mit einem Gottesdienst, gefolgt von einem grossen und bunten Festumzug. Vereine aller Art, verschiedene Musikformationen, Schulkinder, eine grosse Anzahl an Tieren und geschmückten Pferdewagen sind Teil des farbenfrohen Umzugs durch das Dörfchen Valchava.
Chapella GR
Annina Campell (38) bleibt stehen und zeigt auf die neuen Einfamilienhäuser oberhalb des Flusses Vallember: «Da unten war früher nur Wiese, da haben wir immer geheut.» Die Bündnerin kennt sich im Dörfchen Chapella GR aus, obwohl sich einiges in den letzten Jahren verändert hat. Die Moderatorin ist auf der gegenüberliegenden Strassenseite aufgewachsen. Chapella gehört wie ihr Heimatdorf Cinuos-chel zur politischen Gemeinde S-chanf im Oberengadin. Ihr Grossvater führte in Chapella einen Bauernhof, den ihr Onkel übernommen hat. «Darum freue ich mich umso mehr, dass Chapella im Final des Wettbewerbs um das Schweizer Dorf des Jahres ist», sagt Annina Campell stolz.
Doch auch Nicht-Einheimischen kann das 100-Seelen-Dorf ein Begriff sein. Seit 41 Jahren findet hier das Chapella Open Air statt. Es ist das älteste Open Air im ganzen Kanton Graubünden. Angefangen hat es als Fest der Oberengadiner Jugendvereine, inzwischen ist es ein überregionales Festival geworden, das jedes Jahr mehr als 500 Besucherinnen und Besucher zum einzigartigen Schauplatz zieht, einem ehemaligen Hospiz.
Abseits vom Mainstream
«Jetzt sind wir von der zweiten Generation am Ruder», sagt Jonas Bürkli, 27, der zum fünfköpfigen OK des Open Airs gehört. Aber etwas hat sich seit der Gründung des Festivals, das stets abseits des Mainstreams war, nicht verändert: Auf Alkoholausschank wird in Chapella seit je konsequent verzichtet. «Wir hindern natürlich niemanden daran, ein eigenes Bier mitzunehmen», sagt Jonas Bürkli.
«Ich war als Kind auch immer am Chapella Open Air», sagt Annina Campell. «Ich ging meistens mit meiner Grossmutter hin. Sie stand immer in Hotpants, mit einer Zigarette in der Hand und umzingelt von ihren Enkelkindern, ganz vorne vor der Bühne. Das waren noch Zeiten.»
Inzwischen geht Annina Campell mit ihren eigenen drei Kindern ans Chapella Open Air, wenn sie gerade im Engadin ist. «Und es ist noch immer genau so cool wie früher.»
1981 haben einige Jugendliche im Oberengadin musikalische Pionierarbeit geleistet: Sie gründeten das erste Musikfestival unter freiem Himmel in Graubünden. Etwas Vergleichbares gab es damals in der ganzen Region nicht. Vom 4. bis 6. August 2023 findet bereits die 41. Aus-gabe des Chapella Open Airs statt. Auf der Bühne wird auch dieses Jahr ganz viel rätoromanische Musik gespielt, etwa von Dus, Ladunna, Free Bottle und Cha da Fö.