Mi amor! Ich bin so stolz auf dich!» Zärtlich hängt Dalia Soberanis (27) ihrem Freund Livio Wenger (31) eine Medaille um den Hals. Der bronzenen Auszeichnung kommt historische Bedeutung zu: Als erster Schweizer Eisschnellläufer hat es Wenger an Weltmeisterschaften aufs Podest geschafft. Die Sportsensation ereignet sich Mitte Februar in der kanadischen Olympiastadt Calgary. «Danke, mi amor! Ohne dich hätte ich diese Medaille nie gewonnen», schwärmt der Luzerner aus Schenkon und blickt seiner Freundin verliebt in die Augen. Sie stammt aus Guatemala.
Seit drei Jahren wohnen Livio und Dalia in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Geisingen. Die beiden Sportler haben die Stadt im Bundesland Baden-Württemberg, knapp 50 Kilometer von Schaffhausen entfernt, als Sommer-Trainingsbasis ausgewählt, weil hier die modernste Inlineskater-Arena der Welt steht. Man muss wissen: Livio Wenger ist nicht nur der beste Eisschnellläufer der Schweiz, sondern auch Helvetiens stärkster Inline-Speedskater.
Dalia ihrerseits gehört zu den kompetitivsten Inline-Speedskaterinnen der Welt. 2019 gewann sie WM-Bronze – Wenger wurde in dieser nicht olympischen Sportart dreimal WM-Vierter. «Diese Medaille bist du mir voraus. Ich bin schon ein bisschen neidisch auf dich», sagt Wenger und lacht. Dalia rollt mit den Augen und nimmt ihren Schatz liebevoll in den Arm.
Auf die Rollen, fertig, los! Livio Wenger trainiert in der modernsten Inlineskater-Arena der Welt in Geisingen.
Geri BornDas olympische Eisschnelllaufen kann Livio Wenger in der Heimat nicht trainieren, weil es in der Schweiz keine 400-Meter-Eisbahn gibt. Deshalb bereitet sich der gelernte Kaufmann jeweils von Ende September bis Anfang November im Leistungszentrum für Eisschnelllauf im oberbayerischen Inzell auf den Weltcup und die Grossanlässe vor. Auf den Eisflächen der Max Aicher Arena dreht er seine Runden mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 60 Stundenkilometern! Während der Wintersaison wohnt Wenger in Inzell in einer Ferienwohnung.
Es funkt bei einem Wettkampf
Livio und Dalia lernten sich im April 2018 an einem internationalen Inline-Speedskating-Wettkampf in Geisingen kennen. «Auf die Rollen, fertig, los!», so das Motto von Livio Wenger. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach die Lateinamerikanerin nach der Zielankunft an. Es funkte – die Liebe nahm ihren Lauf. Im Sommer 2018 setzt Livio als Zeitmilitär voll auf die Karte Profisport. Er wird fortan von der Schweizer Armee, von der Sporthilfe und von Sponsoren unterstützt.
Handarbeit: Jeden Morgen verwöhnt Livio Wenger seine Freundin Dalia Soberanis mit einem köstlichen Kaffee.
Geri Born«Dalia ist der liebevollste Mensch, den ich kenne – und meine Mentaltrainerin», sagt Livio Wenger. Wenn es ihm einmal nicht so gut gehe, spüre das Dalia sofort. Sie wähle dann die richtigen Worte. «Bevor ich Dalia getroffen habe, stand ich mir oft selbst im Weg. Mir fehlte das Selbstvertrauen. Dank Dalias lateinamerikanischer Lockerheit sehe ich viele Dinge anders. Ich setze mich weniger unter Druck», erzählt Wenger.
Gestrandet in Guatemala-Stadt
Ein einschneidendes Erlebnis hat Livio Wenger im März 2020. Quasi mit dem letzten Flugzeug fliegt er nach Guatemala-Stadt, um nach einem langen Winter bei seiner Freundin ein paar schöne Ferientage zu verbringen. Es folgt der Corona-Lockdown, die Grenzen im bevölkerungsreichsten Land Mittelamerikas werden geschlossen. Statt drei Wochen verbringt Livio drei Monate im Haus von Dalias Mutter Guadalupe Marenco (52). Auf den Strassen kontrollieren Polizisten die Einhaltung der Corona-Massnahmen. «Ich trainierte auf der Terrasse täglich bis zu vier Stunden auf dem Rollentrainer. Und musste Geduld lernen. Das hat mich mental extrem stark gemacht», sagt Wenger. Im Keller habe er zum Glück ein paar alte Trainingsgeräte von Dalias verstorbenem Vater gefunden. So hätten sie sich einen Kraftraum einrichten können. «Der Corona-Lockdown hat uns noch mehr zusammengeschweisst!»
In der gemütlich eingerichteten Stube in Geisingen fühlt man sich wie in einem Sportmuseum. Im Gestell ziehen Medaillen, Akkreditierungen, Pins, Plüschmaskottchen sowie Wengers Olympiadiplom von 2018 (4. Platz) die Aufmerksamkeit auf sich. Es riecht nach Kaffee. Livio Wenger bereitet ihn zu. «Beim Kochen teilen wir uns auf. Dalia ist fürs feine Essen zuständig, etwa Tacos und Burritos. Ich kümmere mich um die Teigwarengerichte und das Frühstück», sagt Wenger. Häufig verwöhnt er seine Dalia mit einem Zmorge, das sie von Guatemala her kennt: Eierspeisen mit pürierten Bohnen. In ihrer Freizeit schauen Livio und Dalia Filme und Serien, sie gehen ins Spa, spielen «Monopoly» oder unternehmen einen Städtetrip.
Entlang der Donau: Dalia Soberanis und Livio Wenger spazieren verliebt über eine Brücke.
Geri BornTraum von einer Olympiamedaille
Martin Feigenwinter (54) ist ein guter Freund von Livio Wenger und im Schweizer Eisschnelllaufen sein Vorgänger. «Livio hat einen Sprung nach vorne gemacht. An den Olympischen Spielen 2026 traue ich ihm eine Medaille zu.» Auch Livio sagt keck: «Ja, ich will 2026 eine Olympiamedaille gewinnen! Mit der WM-Bronzemedaille habe ich gezeigt, dass ein solches Ziel realistisch ist.» Seine letzten Jahre im Profisport möchte Livio einfach nur geniessen: «Ich will das Maximum herauspressen. Ich liebe diesen Sport und lebe meinen Traum. Viele Menschen würden von einem Leben, wie ich es führe, träumen.» Wie wahr.