Wenn Fabio Scherer (24) so richtig aufs Gas drückt, ist er schon mal mit 335 Stundenkilometern unterwegs. Letztes Jahr zum Beispiel bei einem der grössten Autorennen der Welt, den 24 Stunden von Le Mans.
Der gebürtige Luzerner bestreitet es abwechselnd mit zwei Teamkollegen in ihrem Langstreckenauto der zweithöchsten Kategorie LMP2: Neun Stunden total sitzt er am Steuer. «Im engen Cockpit funktionierst du nur noch: steuern, schalten, bremsen! Wie es dröhnt und rüttelt, realisierst du nicht. 10'000 Kalorien habe ich verbrannt.»
Bei einem Fahrerwechsel rollt eine Corvette über seinen Fuss. Die Behandlung mit Eis und Akupunktur nützt nicht viel. Der Mittelfuss ist gebrochen. Doch Scherer setzt das Rennen fort – mit starken Schmerzen. «Ich bin ein Adrenalin-Junkie!» Am Ende rast Fabio im 600-PS-Boliden als Zehnter insgesamt und als Erster der Kategorie LMP2 ins Ziel.
«Das fühlt sich noch heute an wie ein Olympiasieg», sagt Fabio Scherer. In der Wohnung des Autorennprofis in Engelberg OW stehen einige seiner unzähligen Pokale auf einem Regal, darunter jener für den Vizemeistertitel an der letztjährigen Langstrecken-WM.
Ein Bild an der Wand erinnert an den Triumph in Le Mans, designt von Freundin Viviane von Moos. Sie ist Polygrafin. Kennengelernt haben sie sich im Ausgang in Engelberg. Die 23-Jährige aus Sachseln OW sagt über Fabio: «Er ist bodenständig, kollegial, zielstrebig und ein Schlitzohr mit Humor!»
Gegen Formel-1-Held Verstappen
Zusammen mit Fabios Familie, die an diesem Tag wie Viviane in Engelberg zu Besuch ist, blättern sie in einem Fotobuch mit Erinnerungen an die Anfänge von Fabios Rennfahrerkarriere. Vater Patrick war früher achtfacher Schweizer Meister im Kart, führt heute mit seinem Bruder eine Holzhandlung in Aesch LU. Der 56-Jährige sagt lachend: «Unsere ganze Familie hat Benzin im Blut, wir Eltern haben Fabio immer voll unterstützt, auch sein Bruder Timo gehört zu Fabios grössten Fans.»
Als Sechsjähriger fährt dieser in Wohlen AG erstmals Kart. Weil er eigentlich noch zu klein ist, legen ihm die Eltern drei Kissen auf den Sitz. Zweimal wird Scherer Junior Kart-Schweizer-Meister. Auch auf Ski liebt ers schnell: Er fährt erfolgreich JO - und FIS-Skirennen.
Nach seiner Ausbildung zum Kaufmann EFZ entscheidet sich der 17-Jährige für die Karriere als Autorennfahrer. In der Formel 4 fährt er im Team von Michael Schumachers Bruder Ralf. Fabio steigt in die Formel 3 um, dann in die DTM. Seit 2021 fährt er Langstreckenrennen. Sein Idol ist der derzeitige Formel 1-Dominator Max Verstappen. «Wir sind gegeneinander Kart gefahren. Von ihm habe ich viel gelernt.» Richtig leben könne er vom teuren Motorsport nicht – trotz der finanziellen Unterstützung von rund 50 Gönnern. Ausserhalb der Rennsaison ist er im Holzbetrieb seines Vaters tätig: Stapler fahren, Holz ausliefern.
Und täglich heissts trainieren! Im Gym mit Technosound im Ohr, Gehirnübungen mit seinem Personal Coach, im Rennsimulator in Horgen ZH oder mit dem Vater in Wohlen. «Die dortige Kartbahn ist mein zweites Zuhause.» 40'000 Kilometer ist Fabio jährlich mit seinen Privatautos unterwegs, einer alten Mercedes A-Klasse oder einem BMW M2. «Privat fährt Fabio zügig und anständig. Und er lässt sich gern rumchauffieren», sagt Freundin Viviane.
Fabio: «Wegen zu schnellen Fahrens hatte ich erst dreimal eine kleine Busse.» Im Winter ist er oft mit Kollegen an den Hängen von Engelberg unterwegs, beim Freeriden und auf Skitouren. Im Sommer geht er biken, surfen, fährt Wakeboard.
Die Ängste der Mutter
Am 14. April ist Fabio in Barcelona in seine diesjährige Saison gestartet. Er fährt die European Le Mans Series mit einem Wagen der Marke Oreca für das britische Team United Autosports unter Leitung von McLaren-Formel-1- Teamchef Zak Brown. Dort hat er einen Einjahresvertrag. Die Rennwagen, betont Scherer, fahren mit E-Fuel – mit synthetischem Treibstoff also, der über Sonnenkollektoren, aus Biomüll oder Holzabfällen gewonnen wird.
Sein Ritual vor einem Rennen: Massage, dann Seilspringen und Koordinationsübungen wie Jonglieren. Rennfahren fordert den Körper: «In Monza wars mal 60 Grad heiss im Cockpit. Das war wie Vollgas Velo fahren in der Sauna.»
Fabios Familie und Freundin Viviane werden ihn auch heuer an allen sieben Rennen vor Ort anfeuern. «Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut, wenn die Autos beim Start losdonnern», schwärmt Mutter Karin, 55. «Wenn ich ein Rennen live miterlebe, habe ich weniger Angst um Fabio als beim Zuschauen daheim.» Doch manchmal gebe es Momente, «da verspüre ich Verlustängste, träume, er sei verunfallt». Mitte Juni wird er versuchen, seinen Le-Mans-Sieg zu wiederholen. Weitere Ziele? Noch zwei andere Prestigerennen will Fabio Scherer einmal gewinnen: Indianapolis 500 und Daytona 24! «Einmal Vollgas, immer Vollgas!»