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Das Gipfeltreffen der Alphatiere

Jacqueline Badran und Stress über Kindheit, Kultur und schwere Zeiten

Ihre Lebensgeschichten gibts jetzt in gedruckter Form. Jacqueline Badran und Stress verbindet mehr, als man denkt. Wir haben die beiden zum grossen Interview getroffen.

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Gipfeltreffen Jacqueline Badran und Stress

Die Nationalrätin und der Rapper in der Lobby des B2 Hotels in Zürich. Die beiden verstanden sich auf Anhieb.

Kurt Reichenbach

Wir haben beide abstehende Ohren, das ist schon mal gut.» Jacqueline Badrans Begrüssung ist zwar ungewöhnlich, bricht das Eis aber sofort. Stress lacht herzlich. Umgeben von 33 000 Büchern blättern die beiden interessiert in der Lebensgeschichte des anderen. Sowohl «Bodenständig und beharrlich – Jacqueline Badrans Weg ins Bundeshaus» als auch «179 Seiten Stress» wurden von einer Journalistin beziehungsweise einem Journalisten verfasst.

Was ist so wichtig an Ihren Biografien, dass sie unbedingt als Buch veröffentlicht werden mussten?
Jacqueline Badran: Das war nicht meine Idee, Nathalie Zeindler kam auf mich zu. Zuerst dachte ich, das interessiert doch niemanden. Aber 99 Prozent der politischen Arbeit findet nicht im medialen Rampenlicht statt, sondern im Hintergrund. Ich dachte dann, den Leuten einen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen, könnte spannend sein.


Stress: Ich feiere nächstes Jahr mein 20-Jahr-Bühnenjubiläum. Mit diesem Buch hoffe ich, eine neue Perspektive auf diese Zeit zu geben. Ausserdem glaube ich, dass meine Geschichte, die nicht immer einfach war, anderen helfen kann. Das ist schon viel wert.

Gipfeltreffen Jacqueline Badran und Stress

Überraschend viele Gemeinsamkeiten: Die SP-Politikerin und der Künstler blicken ins spannende Leben des jeweils anderen.

Kurt Reichenbach

Ihnen beiden gemeinsam ist, dass Sie beide im Ausland geboren und als Kinder in die Schweiz gekommen sind.
Jacqueline Badran: Stimmt, ich bin in Sydney in Australien zur Welt und mit fünf Jahren hierher, in die Heimat meiner Mutter, gebracht worden. Sie hatte bis anhin Hochdeutsch mit mir gesprochen, da meine Grossmutter Deutsche war. Mein libanesischer Vater redete Englisch. Die Kinder hier waren sehr gemein zu mir, weil ich nicht Schweizerdeutsch sprach. Esther Girsberger, die heute Journalistin ist, war mein Primarschul-Gspönli. Sie hat mir Schweizerdeutsch beigebracht. Auf dem Schulweg übten wir jeweils miteinander.


Stress: Ich kam mit 12 Jahren aus Estland, einem kommunistischen Land, nach Lausanne in ein Land des Überflusses. Für mich war die Sprache kein Thema. Auch wenn ich kein Französisch verstand – auf dem Pausenplatz konnte ich mich beweisen. Ich wusste: Wenn nötig, verhaue ich die anderen einfach.


Jacqueline Badran: Wie seid ihr aus Estland rausgekommen?


Stress: Meine Mutter hat einen Schweizer geheiratet, der bei der ABB in Tallinn arbeitete. Liebe ABB, falls ich irgendwann mal bei euch auftreten soll: Ich tue es gratis. Ihr habt mein Leben gerettet (lacht).

Sie erzählen vom leeren Kühlschrank in Ihrer Kindheit, Stress.
Wir hatten zwar oft nichts anderes als Brot und ein wenig Gemüse. Aber wir waren nicht die Einzigen, alle waren arm. Die Menschen in Estland waren sehr solidarisch und haben versucht, einander zu helfen. Das hat mir auch viel gegeben.

Sie sind zwar am Zürichberg aufgewachsen, waren aber finanziell ebenfalls nicht auf Rosen gebettet, Jacqueline Badran.
Entschuldigung, aber das ist ein völlig anderes Niveau, als Stress das erlebt hat. Aber ja, mein Vater hat uns verlassen und keine Alimente gezahlt, da lagen keine grossen Sprünge drin für unseren Drei-Frauen-Haushalt. Ich musste schon während dem Gymi arbeiten und in der Kantine Geschirr spülen. Später habe ich mir das Studium selber finanziert, habe auf dem Bau gekrampft oder für 10.50 Franken die Stunde im Kino Billette abgerissen.

Gipfeltreffen Jacqueline Badran und Stress

2011 wird die Zürcher SP-Politikerin in den Nationalrat gewählt. Seit 2019 ist sie Mitglied der Aussenpolitischen Kommission. Als Mitinhaberin einer Webdesign-Agentur ist die studierte Biologin und Ökonomin zudem Unternehmerin.

Kurt Reichenbach

Haben diese Erfahrungen etwas mit Ihrem sozialen Engagement zu tun? Sie machen sich etwa für bezahlbaren Wohnraum stark.
Dafür gibts nicht nur einen einzigen Grund, aber gerade der Job auf dem Bau hat mich sicher beeinflusst. Ich bin so dankbar, dass es Menschen gibt, die das machen. Sie sollten alle das Doppelte verdienen.


Stress: Als ich jung war, habe ich eine Zeit lang in einer Fabrik gearbeitet. Nach drei Tagen dachte ich schon: Fuck, das ist so hart. Dann fragte ich den Typ neben mir, wie lange er das schon macht. Er sagte 30 Jahre. Das hat mich motiviert, mein Wirtschaftsstudium in Angriff zu nehmen. Zumal wir nicht zuletzt deswegen aus Estland geflohen waren. Meine Mutter wollte, dass ich studiere, statt als Kanonenfutter in Afghanistan zu landen.

Sie flohen auch vor Ihrem gewalttätigen Vater.
Ich war als Baby vier Wochen im Spital, nachdem mein Vater mich fast zu Tode geprügelt hatte. Trotzdem haben Sie als Erwachsener den Kontakt zu ihm wieder gesucht. Warum? Ich dachte, ich könne so Frieden finden. Aber er will den Kontakt nicht, kehrte mir sogar den Rücken zu, als ich ihm bei meinem letzten Besuch in Tallinn zufällig über den Weg lief. Ich muss akzeptieren, dass ich mit diesem Teil meiner Geschichte nicht abschliessen kann. Das Leben ist kein Wunschkonzert, man bekommt nicht immer alles, was man gerne hätte.

Wie war das Verhältnis zu Ihrem Vater, Jacqueline Badran?
Ich war zwar nicht der Bub, den er sich gewünscht hatte, aber er hat mich vergöttert und mich quasi als Junge erzogen. Er hat mir mit drei schwimmen und mit acht Auto fahren und tschutten beigebracht, das konnte ich besser als die Buben. Das gab mir Selbstsicherheit fürs Leben. Nach der Scheidung meiner Eltern ging er zurück in den Libanon, wo ich ihn immer wieder besuchte.

Sind Sie ein politischer Mensch, Stress?
Ich finde, für einen Künstler kommt irgendwann der Punkt, an dem man Verantwortung übernehmen muss. Wir haben nicht nur die Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen, sondern auch das Glück, sie zu repräsentieren. Deshalb ist es nicht wurst, was ich sage. Viele Künstler wollen sich nicht politisch äussern, weil es nicht gut für ihre Karriere wäre. Ich sehe das anders.


Jacqueline Badran: Ich bin froh, dass du das sagst. Kunst kann so viel verändern. Ich bin in den 70er-Jahren sozialisiert worden, da war alles hochgradig politisch. Wenn man auf einer Party war – das war früher übrigens viel exzessiver als heute –, hat man darüber gesprochen, wie es sein kann, dass ein Shirt nur fünf Franken kostet, und nicht, ob man es in Blau oder Rot kaufen soll. Gleiches gilt für die Musik. Liedtexte können ein Lebensgefühl geben und ganze Generationen prägen. «Imagine» von John Lennon zum Beispiel erlaubt uns immer noch, von einer besseren Welt zu träumen.


Stress: Ich höre oft, ich sei ein Träumer.


Jacqueline Badran: Hoffentlich auch!


Stress: Es braucht Idealisten, nicht nur Realisten. Ich meine, wie gross waren bei meiner Geburt die Chancen, dass ich heute hier sitzen würde? Nicht riesig, oder? Und trotzdem tu ich es.

Gipfeltreffen Jacqueline Badran und Stress

2003 erscheint das erste Soloalbum des Rappers. Andres Andrekson, so sein bürgerlicher Name, ist neunfacher Gewinner bei den Swiss Music Awards.

Kurt Reichenbach

Wie musikalisch sind Sie, Jacqueline Badran?
Ich kann so singen, dass ich die Töne treffe, habe aber nie ein Instrument spielen gelernt. Rap mag ich, wenn ich den Text verstehe. Ich kenne nicht all deine Lieder, Stress, aber ich mag zum Beispiel «On n’a qu’une terre».

Sie haben einen Flugzeugabsturz überlebt. In Ihrem Buch heisst es dazu: «Überleben verpflichtet». Wozu?
Jacqueline Badran: Man könnte auch sagen, Glück verpflichtet oder Talent verpflichtet. Wir beide wurden in ein sicheres, reiches Land gebracht. Wir sind intelligent und hübsch – damit muss man was machen (lacht).

Glauben Sie an Zufall oder an Schicksal?
Stress: Das macht doch keinen Unterschied.


Jacqueline Badran: Stimmt. Eine Rolle spielt hingegen, welchen Weg man gegangen ist. Sie beide hatten auf Ihrem Weg mit psychischen Herausforderungen zu kämpfen.

Was haben Sie daraus gelernt?
Stress: Ich habe gemerkt, dass es sehr viel Zeit braucht, sich selber kennenzulernen. Ich habe noch immer Schwankungen, heute kann ich aber besser damit umgehen.


Jacqueline Badran: Warst du erstaunt, dass das ausgerechnet dir passiert ist?
Stress: Nicht unbedingt, irgendwie war es eine logische Konsequenz. Ich habe immer alles unterdrückt, nichts an mich rangelassen, aber irgendwann war es zu viel. Wie ein übervolles Büchergestell, in das nichts mehr reinpasst. Dann muss man aufräumen. Dabei hat mir eine Therapie geholfen.

Kennen Sie dieses volle Büchergestell auch, Jacqueline Badran?
Ich bin eigentlich ein Mensch, der gut mit negativen Dingen umgehen kann. Während Corona habe ich mich Tag und Nacht für die Kunst und das Gewerbe eingesetzt, habe Tausende Mails erhalten, die mich sehr betroffen gemacht haben. Da bekam ich die negativen Gedanken plötzlich nicht mehr aus meinem Kopf. Mein Arzt riet mir zu einer Pause, sonst würde ich in der Klinik landen. Das hat gutgetan. Vor allem, dass ich ein halbes Jahr lang keine Medien konsumiert habe.

Gipfeltreffen Jacqueline Badran und Stress

Angeregte Unterhaltung bei Kaffee und Cheesecake. Beide sind sehr interessiert am Metier des anderen.

Kurt Reichenbach

Apropos Medien: Was ist das Schlimmste, das Sie je über sich gelesen haben?
Stress: Ich wurde mal mit Antisemitismus in Zusammenhang gebracht, weil ich einen Post über einen französischen Künstler gemacht hatte, zugegebenermassen ohne vorher seinen Background genügend zu prüfen. Aber das war einfach billig. Zumal ich zwei Monate zuvor den Fischhof-Preis für meinen Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus erhalten hatte.


Jacqueline Badran: Solche Dinge habe ich tonnenweise erlebt. Es hiess zum Beispiel mal, ich sei morgens um acht Uhr betrunken ins Bundeshaus gelaufen. Dabei weiss jeder, dass ich keinen Alkohol trinke.

Stress, Ihre beiden letzten Beziehungen – mit Model Ronja Furrer und Ex-Miss Melanie Winiger – fanden zu einem guten Teil in der Öffentlichkeit statt. Warum verstecken Sie Ihre neue Freundin?
Wenn beide Personen in einer Beziehung in der Öffentlichkeit stehen, ist das ein Stück weit nicht zu vermeiden. Meine jetzige Freundin ist aber keine öffentliche Person, und ich habe keine Lust darauf, meine Beziehung von irgendwelchen gelangweilten Menschen kommentieren zu lassen.


Jacqueline Badran: Was sagt denn deine Freundin dazu?


Stress: Es ist ja nicht so, dass ich sie verstecke, aber ich denke, für uns beide ist es zu diesem Zeitpunkt einfach wichtig, uns auf uns zu konzentrieren.


Jacqueline Badran: Also für mich ist ein Interview in der SI das Maximum. Aber ohne Schaumbad.

Familienbloggerin Sandra C.
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Von Sandra Casalini und Silvana Degonda am 27. Januar 2023 - 17:08 Uhr