Lena Häcki-Gross (28) steht neben der Kücheninsel und nimmt Mass. Die gegenwärtig stärkste Schweizer Biathletin wiegt aber keine Zutaten ab, nein, sie zielt mit ihrem dreieinhalb Kilogramm schweren ungeladenen Kleinkalibergewehr auf ein imaginäres Ziel an der Eingangstür. «Mit dem Trockenschiessen übe ich die richtige Handhabung der Waffe und die korrekten Abläufe», sagt die Engelbergerin.
Seit Herbst 2022 wohnt sie mit Ehemann Marco Gross (28) im bayrischen Ruhpolding inmitten der Chiemgauer Alpen.Lenas Trockenübungen zeigen Wirkung. Sie gehört an der Biathlon-WM in Nove Mesto in Tschechien (7. bis 18. Februar) zu den Medaillenkandidatinnen. Das hat natürlich mit ihren drei Podestplätzen in dieser Saison zu tun. Der Höhepunkt: Am 19. Januar feierte sie im Einzelrennen in Antholz (I) über 12,5 Kilometer einen Weltcupsieg – den ersten für die Schweiz seit über zehn Jahren. Der Lohn: ein Check von 15'000 Euro. Lena und Marco können ihn gut gebrauchen: «Dank ihren Preisgeldern verlaufen die Umbauarbeiten an unserem Haus nach Plan», sagt Marco Gross mit einem Schmunzeln.
Das Leiden der Oma
Nach dem viertelstündigen Heimtraining bereitet Lena Häcki-Gross zum Mittagessen die Spezialität Weisswurst mit süssem Senf und Brezel zu. Da klingelt es an der Tür. Oma Karin (80) und Opa Werner (77) die Grosseltern von Marco, kommen zu Besuch. Sie wohnen gleich nebenan. «Ich bin Lenas grösster Fan und schaue jeden Wettkampf von ihr im TV. Wenn sie im Ziel ist, bin ich jeweils nudelfertig – genau wie sie», erzählt die rüstige Oma und kichert. Am meisten leidet sie mit, wenn die Obwaldnerin in den Schiessstand einläuft. «Dann verschwinde ich jeweils nach draussen auf den Balkon. Das Schiessprozedere ist mir zu nervenaufreibend.» Opa Werner sorgt dafür, dass die Oma trotzdem nichts verpasst. Jeden Treffer Lenas quittiert er mit einem lang gezogenen Jaaa!
Pater aus Engelberg segnet das Haus
Oma Karin verwöhnt Lena gern mit hausgemachtem Apfelstrudel und Vanillesauce. «Das mag sie sehr. Lena passt wunderbar in unsere Familie. Sie lächelt immer, ist stets gut drauf und unkompliziert. Ein Sonnenschein!», schwärmt Karin. Seit drei Jahren gehört auch der sechsjährige Lupo zur Familie. Den Schäferhund haben Lena und Marco aus dem Tierheim adoptiert. «Spaziergänge mit Lupo zählen zu den Höhepunkten des Tages», sagt Marco. Die ganze Familie ist mit Biathlon eng verbunden.
Marco Gross hat den Sport ebenfalls ausgeübt, trat jedoch nach mittelmässigen Resultaten vergangenes Jahr zurück. In diesem Winter arbeitet er als Servicemann der slowenischen Biathleten. Parallel dazu macht er eine Ausbildung zum Auto-Mechatroniker – und renoviert das Haus in Ruhpolding, wenn es der durchgetaktete Weltcupkalender erlaubt. Lena und Marco wollen den oberen Stock des Hauses neu herrichten. «Es wurde vom gleichen Pater gesegnet, der uns standesamtlich in Engelberg und kirchlich in Ruhpolding getraut hat», erzählt Lena. Marcos Vater Ricco (53) ist mit vier Olympiasiegen und neun WM-Titeln der erfolgreichste deutsche Biathlet. Er ist ebenfalls vom slowenischen Biathlonteam angestellt, als Cheftrainer.
Die «Lady in Red»
Lena Häcki-Gross hat es sich inzwischen auf der Couch in der Stube gemütlich gemacht. Hier entspannt sie sich nach einem intensiven Training oder harten Wettkampf. Sie liest (aktuelles Buch: «Anxious People» von Fredrik Backman), lauscht Hörbücher («Don’t Want You Like a Best Friend» von Emma Alban) und kommt bei rhythmischen Popmusik-Klängen («Parachute» von Kyndal Inskeep & Song House) zur Ruhe.
Sie achtet auch darauf, dass sie viel schläft. An ihrem Fussgelenk prangt ein Tattoo der Engelberger Gipfel Hahnen sowie Gross und Chli Spannort. Die Bergformation steht für die Verbundenheit Lenas mit dem Innerschweizer Klosterdorf. «In Ruhpolding fehlen mir die hohen Berge. Dank diesem Tattoo habe ich stets ein Stück Heimat dabei», sagt die 1,64 Meter grosse und 68,5 Kilo schwere Athletin. In Engelberg leben Mutter Sabine, 61, eine gebürtige Allgäuerin, und Vater Sepp (62). Lenas Schwester Martha (27) wohnt in Bern.
Auf der Kücheninsel steht eine Anti-Stress-Wolke mit der Aufschrift: «I love you – Du schaffsch das!» Marco erklärt: «Lena hat mir diesen Glücksbringer vor der EM 2023 auf der Lenzerheide geschenkt.» Er nimmt seine Frau zärtlich in den Arm. Die Liebe scheint Lena zu beflügeln. Geholfen hat der willensstarken Sportlerin aber auch ein Coming-out: «Vor zwei Jahren habe ich mich entschie-den, über meine Binge-Eating-Störung öffentlich zu sprechen. Wegen meiner extremen Essattacken habe ich professionelle Hilfe in Anspruch genommen.
Seither ist mein Kopf frei, ich habe mehr Energie und die Probleme im Griff. Mir gehts wieder gut.» So ist sie nun in beneidenswerter Form – auf der Loipe und im Schiessstand. An der WM wird Lena im Roten Trikot der Disziplinen-Führenden starten. Ein Novum in der Geschichte des Schweizer Biathlonsports im Einzellauf. «Eine mega Ehre für mich – aber auch ein Signal an die Konkurrenz, dass mit mir zu rechnen ist», sagt die Skijägerin. «The Lady in Red»! Der Welthit von Chris de Burgh sagt alles.