Und plötzlich dominiert auf dem Campingplatz Rausenbach im zürcherischen Maur Hellblau – belgisches Hellblau. Ella Segaert und ihre Freunde haben das Kommando übernommen und schlagen ihre Zelte auf. Möglichst nahe beieinander. Schliesslich ist das Gruppengefühl wichtig. Campingplatz-Chef Ralf Steinmann zuckt mit den Schultern: «Wir hätten so viel Platz, aber selbstverständlich erfüllen wir jeden Wunsch.» Das Wirgefühl ist der fröhlichen Truppe wichtig. Schliesslich sind die jungen Leute den ganzen Weg aus der Universitätsstadt Leuven östlich von Brüssel auf dem Velo hierherpedalt: 700 Kilometer, in fünf Tagen – unter anderem mit acht Harassen belgischem Bier im Gepäck: «Man darf schliesslich nichts dem Zufall überlassen», sagt Mathias lachend. Grund der leutseligen Velotour: Noch bis am Sonntag finden in Zürich die Rad-Weltmeisterschaften statt. Und auf belgische Verhältnisse bezogen, ist dies ein Anlass wie in der Schweiz die Lauberhornabfahrt und der Brünigschwinget in einem.
Radfahren als Menschenrecht
In Belgien ist Radfahren ein Menschenrecht. Dementsprechend enthusiastisch verfolgen die Gäste die Rennen in der Schweiz. Dass hier die Verkehrssituation und Strassensperrungen im Vorfeld fast die wichtigeren Themen waren als der Sport und die Namen der grossen Favoriten, können sie nicht nachvollziehen: «Stünde in Belgien ein solches Ereignis an, wäre das ganze Land auf den Beinen, und man würde notfalls den gesamten Verkehr stoppen», sagt Maksim.
Die belgische Sehnsucht nach den Helden der Landstrasse konzentriert sich derzeit vor allem auf einen Mann: Remco Evenepoel. Der 24-jährige Pedaleur aus dem Städtchen Aalst ist eine Ausnahmefigur im Radsport – durchaus zu vergleichen mit dem fünffachen Tour-de-France-Sieger Eddy Merckx, der in den 1970er-Jahren die Konkurrenz in Grund und Boden fuhr. Nach Evenepoels Sieg im Zeitfahren ist die Stimmung in der belgischen Exklave am Greifensee das erste Mal so richtig euphorisch: «Heute gehen wir erst im Morgengrauen ins Bett», rufen Anton und Jonas lachend. Dabei sind die Velogäste eigentlich wegen eines anderen Fahrers hier; wegen Alec Segaert, U23- Fahrer und Bruder von Ella: «Wir unterstützen Alec, wo wir nur können», sagt seine Schwester am grossen Campingtisch. Glücklicherweise hat sie im benachbarten Fällanden eine Bäckerei gefunden, die auch am Sonntag geöffnet hat. So gibts Frühstück wie zu Hause: Baguette, Wurst und Bier.
Camping seit Monaten ausgebucht
25 Plätze für Wohnmobile bietet der Campingplatz Rausenbach. Wegen der WM sind diese schon seit Monaten ausgebucht; in einer Zeit des Jahres, in der normalerweise nicht mehr so viel los ist. Zu den WM-Besuchern zählen auch die Niederländer Pit und Elen van den Berg. Sie sind mit dem Wohnmobil aus Sint Anthonis in Noord-Brabant angereist und stehen somit quasi in sportlicher Konkurrenz zu ihren belgischen Nachbarn. Denn die niederländischen Herzen gehören dem Weltmeister von 2023, Mathieu van der Poel: «Es wäre schön, wenn er in der Schweiz seinen Erfolg vom letzten Jahr wiederholen könnte», sagt Pit van den Berg, ohne dabei die Gelassenheit zu verlieren. Schliesslich geniesst er mit seiner Frau vor allem die touristischen und gastronomischen Vorzüge des WM-Orts: «Der Aperol Spritz ist exzellent und der Blick über den Greifensee fast schon meditativ.»
Eine Reihe weiter hinten haben sich andere holländische WM-Touristen zum Apéro in ihren Gartenmöbeln versammelt: Tenake und Roelof Maakhof aus Hoogeveen mit Martha Pama aus dem Dörfchen Kootstertille in Friesland. Selbstverständlich seien sie schonmal in der Schweiz gewesen, sagen die drei lachend: an den Rad-Weltmeisterschaften 2009 in Mendrisio. Mit Fabian Cancellara habe damals ein Schweizer das Zeitfahren gewonnen, der auch in den Beneluxländern grösste Popularität geniesst: «Er ist ein wahrer Champion», sagt Tenake – um sogleich einen weiteren Landsmann zu begrüssen:«Hallo, Henk, wie gehts dir?» Gemeint ist Henk Tissingh, der mit seiner Frau Christine Mos die Rennräder am Wohnmobil festmacht. Die beiden stammen aus dem Städtchen De Wijk, wie Hoogeveen ebenfalls in der Provinz Drenthe gelegen. Ihre Landsleute kennen sie von früheren WM-Reisen: «Es ist ein gutes Gefühl, so weit weg von zu Hause so viele bekannte Gesichter zu sehen», sagt Christine, die 2003 an den niederländischen Meisterschaften Silber im Strassenrennen gewonnen hat. Entsprechend sind ihre Velos mehr als nur Fortbewegungsmittel. Henk will zwar nicht sagen, wie viel er dafür bezahlt hat, aber ungefähr so viel wie für einen Kleinwagen sei es schon gewesen.
Von Brighton an den Greifensee
Ungefähr fünf Kilometer seeaufwärts haben sich die Einheimischen Franziska und Roman Moser nicht von der allgemeinen WM-Skepsis anstecken lassen, sondern aus der Not eine Tugend und ihre Wiese zu einem Campingplatz gemacht. 170 Stellplätze stehen zur Verfügung, rund 70 Reservationen gingen vor der WM ein: «Aus ganz Europa», so Roman Moser. Zu den Ersten auf dem Platz zählen Graham und Olli Moors aus Brighton in Grossbritannien. Wie die meisten Fans sind sie mit dem Auto angereist – in ihrem Fall ein 24-Stunden-Trip. Graham klagt über eine gewisse Müdigkeit, doch der Blick auf die Alpen entschädigt: «Ich kann nicht glauben, wie schön es hier ist.» Sohn Olli kümmert das weniger. Seine Aufmerksamkeit gehört dem Handy, das ihn mit seiner Freundin Anna Henderson verbindet. Anna hat an Olympia in Paris Silber im Zeitfahren gewonnen – und hofft nun auch aufs WM-Glück.
So oder so: Vater Graham blickt den kommenden Tagen ohne grosse Verbissenheit entgegen. Er sagt: «Ich kann es kaum erwarten, mit dem Rad hier eine Tour zu machen.» Oder mit anderen Worten: Manchmal findet man das Glück ganz einfach an einem Campingplatz am Greifensee.