«Gott hat für uns ein Weltcuprennen inszeniert», ruft der alte Zermatter in die Runde. Er sitzt in der Beiz mit freiwilligen Helfern des Matterhorn Cervinia Speed Opening. «Seit zehn Jahren haben wir um diese Zeit keinen Schnee im Dorf gesehen. Und jetzt, fünf Tage vor dem Abfahrtsrennen, liegt hier Schnee, und die Sonne scheint! Wenn das nicht ein Wunder ist.»
Inszeniert hat die Abfahrt ein Normalsterblicher, der eben ein mediales Sturmwetter überlebt hat: Franz Julen (65) VR-Präsident der Zermatt Bergbahnen und OK-Präsident der Abfahrtsrennen, ein ruhiger Typ, der auf eine erfolgreiche Karriere als Manager und Unternehmer (Völkl, Intersport, Valora etc.) zurückblickt und seit Wochen standhaft kaltem Gegenwind trotzt.
Julen, ein Kind der grossen Familie Julen von Findeln oberhalb von Zermatt, «Tschuggini» genannt, wurde zum Bölimann, seit die Bilder von drei Baggern zirkulierten, die auf dem Theodulgletscher die Spalten mit Schnee und Eis auffüllten. «Wie es jedes Jahr geschieht, seit 30 Jahren sichern wir die Spalten», betonte Franz Julen in unzähligen Interviews. Doch der Zapfen war ab: Grüne, Umweltschützer, Klimabesorgte klagten die Zermatter an, sie würden den Gletscher, der eh unter der Klimaerwärmung leidet, kaputt machen.
«Mach dir keine Sorgen, das kommt gut» «Solange die Argumente sachlich waren, hatte ich kein Problem, wir haben auch Fehler zugegeben», meint Julen auf der Seilbahnfahrt zum Klein Matterhorn, «es wurde uns aber vorgeworfen, wir würden den Gletscher bewässern oder beschneien, was nicht zutrifft. Wir stehen zu diesen Baggerarbeiten. Es wurde gesagt, wir zermalmten den Gletscher, wir zerstören ihn, wir tragen ihn ab, das hat mich getroffen, weil es eben nicht stimmt.»
Heute ist die Kritik verstummt. Glaziologen haben in der SRF-«Rundschau» erklärt, «was wir da am Gletscher machten, sei nicht das wahre Problem, die Klimaerwärmung mache den Gletscher kaputt. Da, wo wir Skipisten anlegen, ist der Gletscher viel besser vor dem Abschmelzen geschützt als dort, wo wir nicht Ski fahren.»
Die harsche Kritik hat Julen zugesetzt, «ich möchte den Manager kennenlernen, der sagt, das berührt mich nicht, das bereitet mir keine schlaflosen Nächte». Aber gelitten hat vor allem die Familie. Seine Mutter, Trudy Julen, 90, hat ihm jeweils am Telefon gesagt: «Warum tust du dir das an? Wie kommt das wohl heraus?» Franz beruhigte seine Mama: «Das kommt gut, mach dir keine Sorgen.»
Wer hatte eigentlich die verrückte Idee, diese Abfahrtsrennen zu machen? Julen weiss es noch genau: «Es war am 30. November 2019. Wir waren zu dritt, Markus Hasler, mein CEO und ich sind wie jedes Jahr nach Cervinia gegangen, um unseren Vertrag zur Betreibung des gemeinsamen Skigebiets zu unterschreiben, der die Zusammenarbeit mit den italienischen Partnern regelt. Als wir gehen wollten, sagten die Italiener, wartet, wir haben eine Idee. Wenn ihr die Bahnen, die die beiden Länder verbinden, fertiggestellt habt, könnten wir hier eine Abfahrt machen. Von Gobba di Rollin über die Grenze nach Laghi Cime Bianche.»
«Es hat nur drei Sekunden gebraucht, dann wusste ich, das ist es, das ist das Projekt, das uns zurück in den Weltcup bringt. Sportpolitisch null Problem. Wir nehmen niemandem ein Rennen weg, wir können die Lücke zwischen Sölden und Ende November schliessen. Die Athleten und Athletinnen können die Speed-Saison früher starten. Und wir können der ganzen Welt Zermatt, das Wallis, Cervinia zeigen, das Aostatal, wir haben Schnee! Von dem Tag an hat mich die Idee nicht mehr losgelassen. Für diese Idee lohnt es sich zu kämpfen.»
Die wichtigsten Leistungspartner von Zermatt und Cervinia, der Internationale Ski- und Snowboardverband FIS, Swiss-Ski und der italienische Ski-Verband waren begeistert von der Idee. FIS-Präsident Johan Eliasch fand, dass die Rennen schon 2022 stattfinden sollten, doch da musste das Rennen abgesagt werden – zu warmes Wetter, kein Schnee.
Dieses Jahr spielt das Wetter mit. «Die winterlichen Verhältnisse beweisen, dass Abfahrtsrennen zu diesem Zeitpunkt möglich sind. Wir können zeigen, dass wir hier bereits tiefen Winter haben und für die Saison parat sind. Das letzte Wort hat jetzt die Natur, wie bei jedem anderen Skirennen auch.» Vater Martin Julen, 95, in den 50er-Jahren ein weltbekannter Skistar, ist noch heute für den umtriebigen Sohn ein Vorbild. Franz wohnt in Zermatt nur 100 Meter von den Eltern entfernt. Sie sind gerade am Mittagessen, als er vorbeischaut. Der Julen-Senior ist sich den Umgang mit Medien gewohnt, er weiss genau, was wir wissen wollen. «Wenn Franz nicht gewesen wäre, wäre das Rennen nie zustande gekommen. Das gibt eine gute Sache, die Bilder werden um die Welt gehen, auch wenn eigentlich Zermatt diese Werbung gar nicht nötig hat. Es wird schon zu viel gebaut.»
Hatte Vater Julen denn keine Bedenken? «Doch, ich habe Franz gesagt, du hättest dich gar nicht darauf einlassen sollen.» Und jetzt? «Wenns Wetter mitspielt, wirds gut», sagt er und lacht. Und, würde Franz Julen den Aufwand nochmals wagen? «Ganz sicher, es ist für den Wintersport, fürs Skifahren und den Tourismus wichtig. Aber auch für die Jugend, es gibt ihnen Perspektiven. Man darf nicht nur über die Ökologie, die uns wichtig ist, reden, es gibt auch eine soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit, und die ist dank diesem Rennen gross.»