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Drei Welten in einem Bergsee

Der geheimnisvollste See der Schweiz

Der Lago di Cadagno oberhalb von Airolo und Ambrì besteht aus drei Wasserschichten, die sich nicht mischen. Das zieht Forschende aus der ganzen Welt ins Tessin. Das einzigartige Ökosystem des Sees und seiner Organismen hilft, die Geschichte des Lebens zu verstehen.

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Zu Besuch beim mysteriösen Lago di Cadagno einem See mit speziellen Wasserschichten im Tessin. 04.09.24 ©David Birri Grün Reportage: Lago di Cadagno
Die Oberfläche schimmert smaragdgrün, am Grund des Sees ist eine Todeszone. Das ist der Cadagnosee im Kanton Tessin. David Birri

Neun Millionen Autofahrer und Trucker brausen jedes Jahr durch den Gotthardtunnel Richtung Süden. Dabei verpassen sie hoch über der Leventina im Val Piora eine weltweit einzigartige alpine Landschaft mit 21 Seen, 28 Teichen und 14 kleinen Mooren. Und das Mysterium des idyllisch smaragdgrün schimmernden Cadagnosees. Der 423 Meter breite und doppelt so lange Bergsee fesselt Wissenschaftler aus der ganzen Welt. «Der Lago di Cadagno besteht aus drei Wasserschichten, die sich nicht mischen», sagt der 82-jährige emeritierte Biologie-Professor Raffaele Peduzzi. Er ist der einzige dieser Art in den Alpen.

Meromixis. So heisst das Kuriosum in der Fachsprache. In der Regel wechseln sich in einem See Perioden mit Schichtung und solche mit vollständiger Durchmischung ab. Raffaele Peduzzi lächelt schelmisch unter seinem Cap. Begeistert wie ein junger Forscher, zeigt er verschiedenfarbige Wasserproben aus den drei Schichten des bis zu 21 Meter tiefen Sees. «Bis in etwa elf Metern Tiefe setzt sich der See aus glasklarem, sauerstoffreichem Wasser zusammen.» Dieses stammt von Bergbächen, die über das kristalline Granitgestein des Gotthardmassivs und des Lukmaniers in den Lago di Cadagno fliessen. Das Wasser enthält wegen des Granitgesteins nur geringe Mengen an Salzen. Es bietet Fischen und Plankton einen Lebensraum.

Raffaele Peduzzi .Zu Besuch beim mysteriösen Lago di Cadagno einem See mit speziellen Wasserschichten im Tessin. 04.09.24 ©David Birri Grün Reportage: Lago di Cadagno

Raffaele Peduzzi: Der 82-jährige emeritierte Biologie-Professor ist Mitinitiant und Präsident des Zentrums für Alpine Biologie.

David Birri

Anders sieht es in den Tiefen des Lago di Cadagno aus. Hier hätten weder Fisch noch Mensch eine Überlebenschance, nur Milliarden von uralten Mikroorganismen wachsen dort. Aus unterirdischen Quellen sprudelt am Seegrund Wasser aus dem löchrigen Dolomit-Kalkstein des Pizzo Columbe in den See. Dieses Wasser enthält keinen Sauerstoff, löst bei seinem Lauf aber die Mineralsalze. Es enthält besonders viel Kalk und Schwefel. Mikroorganismen wandeln in der «Todeszone» die Schwefelsalze in giftigen Schwefelwasserstoff um. Dieses stark salzhaltige Wasser ist dichter als das Süsswasser in der ersten Schicht. Es verbleibt immer am Grund und mischt sich nie mit der oberen Schicht.

Centro Biologia Alpina ©zvg

Unterwasseraufnahmen zeigen die unterirdischen Quellen. Diese führen kalk- und schwefelhaltiges Wasser aus dem Dolomit-Kalkstein zu.

ZVG

Zum Glück für die Fische gibt es eine dritte Wasserlage: eine Ebene zwischen der ersten Schicht mit Leben und der «tödlichen» dritten Schicht. «Etwa in zwölf Metern Tiefe entsteht auf etwa anderthalb Metern ein Bakterienteppich», sagt Sandro Peduzzi. Der Sohn von Raffaele ist selber Hydrobiologe und als Umweltingenieur für die Renaturierung der Gewässer im Tessin verantwortlich. «Diese uralten Bakterien sind die ersten Organismen, die auf der Erde auftauchten, die Sonnenstrahlen zur Fotosynthese nutzen können», weiss er. Kurz: Myriaden von Schwefelbakterien filtern den giftigen Schwefelwasserstoff heraus und sichern so das Überleben von Fischen und Co. in der ersten Schicht. Ihre fotosynthetischen Pigmente verleihen dem Wasser seine rosarote Farbe. Dank dieser Fotosynthese verfügen die Fische über riesige Nahrungsmengen. Und die Angler freuen sich: Der Ertrag von 30 Kilo pro Hektare ist fast zehnmal höher als in andern Bergseen.

Samuela Roman und Sandro Peduzzi. Zu Besuch beim mysteriösen Lago di Cadagno einem See mit speziellen Wasserschichten im Tessin. 04.09.24 ©David Birri Grün Reportage: Lago di Cadagno

Samuele Roman (l.) und Sandro Peduzzi von der wissenschaftlichen Kommission des Zentrums für Alpine Biologie messen mit einer Sonde Wassertiefe, Leitfähigkeit und Temperatur.

David Birri

Ein moderner Ur-Ozean

Raffaele Peduzzi hat das Geheimnis des Sees in den 80er-Jahren gelüftet. Seither interessieren sich Wissenschaftler aus der ganzen Welt für diese Rarität. Es gibt über 400 Publikationen. Dänische Forscher fanden heraus: Der Lago di Cadagno entspricht genau den Bedingungen bei der Entstehung von Leben auf der Erde vor 0,5 bis zu 3,5 Milliarden Jahren. Der See ist eine moderne Form eines Ur-Ozeans. «Die Untersuchung der mikrobiellen Populationen am Grund und in den Wasserschichten des Sees ermöglichen eine Reise zurück zu den wichtigen Etappen in der Evolution des Lebens auf unserem Planeten», sagt Sandro Peduzzi. Und trotz dem Nein zur Biodiversitäts-Initiative zeigt der kleine Tessiner See mit seiner Mikro-Biodiversität, wie wichtig diese ist: «Der Lago di Cadagno und seine Organismen bilden ein Ökosystem, das uns hilft, die Geschichte des Lebens auf der Erde zu verstehen.»

Zu Besuch beim mysteriösen Lago di Cadagno einem See mit speziellen Wasserschichten im Tessin. 04.09.24 ©David Birri Grün Reportage: Lago di Cadagno

Das rosarote Wasser stammt aus der schwefelhaltigen Mittelschicht. Rechts eine Probe aus der unteren «tödlichen» Zone, links aus der obersten nährstoffreichen Schicht.

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Französisch-schweizerische Forscher erkannten, dass sich der faulige Schlamm am Seeboden zu Vorstufen von Erdöl umwandelt. Immer wieder kommt es zu neuen Entdeckungen: Sandro Peduzzi fand kürzlich drei unbekannte Arten von Schwefelbakterien. Eine davon hat er Thiocystis cadagnonensis benannt.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter Samuele Roman. Zu Besuch beim mysteriösen Lago di Cadagno einem See mit speziellen Wasserschichten im Tessin. 04.09.24 ©David Birri Grün Reportage: Lago di Cadagno

Samuele Roman mit dem Spritzensampler. Mit diesem entnimmt er Wasserproben im Abstand von zehn Zentimetern.

David Birri

Von der Natur lernen

Raffaele Peduzzi ist mit Reinhard Bachofen von der Uni Zürich Initiant des Zentrums für Alpine Biologie am Lago di Cadagno. Gegründet wurde es 1993 vom Kanton Tessin zusammen mit den Universitäten Genf und Zürich sowie dem Nationalfonds. In umgebauten Ställen aus dem 16. Jahrhundert gibt es Hörsäle, Labors, eine Bibliothek und Schlafsäle mit 58 Betten. «Täglich sind Professoren, Studenten und Forscher am Tüfteln», sagt Samuele Roman. Der wissenschaftliche Mitarbeiter bestaunt den geheimnisvollen See und die Berge: «Ich arbeite hier im schönsten Büro der Welt!» Ein Ausflug auch für Hobbyforscher: In einem Pinienwald entlang dem Ritóm-Stausee zum Lago di Cadagno gibts auf einem Lehrpfad alles zur aussergewöhnlichen Naturvielfalt mit 1732 Pflanzen- und 780 Tierarten, aber auch zu Kulturgeschichtlichem (Nietzsche und Einstein haben hier Spuren hinterlassen). Hinauf zum Ritóm-Stausee gehts ab Piotta mit einer der steilsten Zahnradbahnen der Welt. Raffaele Peduzzi möchte Wissenschaft einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen: «Eine Erziehung zum Respekt vor der Natur ist für die Zukunft unseres Planeten zentral.»

Zu Besuch beim mysteriösen Lago di Cadagno einem See mit speziellen Wasserschichten im Tessin. 04.09.24 ©David Birri Grün Reportage: Lago di Cadagno

Links und rechts salzarmes kristallines Granitgestein – in der Mitte löchriges salzreiches Dolomit-Kalkgestein.

David Birri
Von Max Fischer am 28. September 2024 - 18:00 Uhr