Gemütlich ausschlafen, dann Olympiarennen nachschauen, ohne zuvor die Resultate gecheckt zu haben – das steht heute auf dem Tagesplan von Ehepaar Scherrer. Eine ungewohnte Situation. Denn bis vor zwei Tagen war Freestyle-Snowboarder Jan Scherrer, 27, selbst noch in Peking, und Sasha, 24, fieberte daheim in Zürich live vor dem TV mit ihrem Gatten mit. «Ich war nervöser als Jan», sagt sie, die im achten Monat schwanger ist.
Nun ist Jan zurück – und zwar mit der Bronzemedaille. An seinen dritten Olympischen Spielen fährt er mit einem perfekten zweiten Lauf auf den dritten Platz und vermasselt so Snowboard-Legende Shaun White, 35, eine Medaille zum Karriereende. Jan Scherrer lacht. «So ist der Sport. Für mich ist diese Medaille mit den olympischen Ringen drauf so viel schöner als alles, was ich bisher erhalten habe.»
Ein Podestplatz war Jan Scherrers Ziel, nachdem er sich diese Saison von Contest zu Contest steigern konnte und regelmässig aufs Podest fuhr. «Mein Selbstvertrauen wuchs stetig und war mit dem zweiten Platz am Laax Open auf hohem Level. Olympia kam zum perfekten Zeitpunkt.» Für das Paar wars keine Diskussion, dass Jan sich voll auf Peking konzentrieren soll – trotz kommendem Nachwuchs. «Ich wollte unbedingt alles aus mir rausholen, bevor wir Eltern werden und sich einiges verändert», sagt Scherrer. «Und Sasha hat alles darangesetzt, dass ich mich fokussieren kann.»
«Sasha hat alles darangesetzt, dass ich mich fokussieren kann»
Jan Scherrer
Der Toggenburger aus Ebnat-Kappel und die Westschweizerin aus Montreux treffen sich im Sommer 2020 im Ausgang in Zürich – um drei Uhr früh im Klub Gonzo. «Eine Langstrasse-Love- story», erzählt Sasha und lacht. Sie begrüssen sich kurz, da sie einander auf Instagram folgen, mehr nicht. «Doch so kam das Interesse auf, einander wirklich kennenzulernen.» Nach einer Woche und einem ersten Date fragt Jan Sasha, ob sie seine Mutter kennenlernen wolle. Nach dreieinhalb Monaten zieht die Fintech-Expertin zum Betriebswirtschaftsstudenten, im November 2021 heiraten sie. «Und hier sind wir! Es ist schnell eskaliert.»
Die beiden lachen und schauen auf Sashas wachsenden Bauch. Im April erwarten sie ihr Töchterchen. «Wir waren beide bereit für eine Veränderung», sagt Jan Scherrer. «Nun, da die Spiele zu Ende sind, kann ich meinen Fokus ganz auf Sasha und das Baby richten.»
Sasha ist keine Winterperson, dafür ein Kontrollfreak, wie sie sagt. Sie liest alles, was ihr in die Hände kommt, und gibt ab und zu eine Lektüre an Jan weiter, der eher mit dem Flow geht. «Auf dem Papier mögen wir nicht zusammenpassen. Aber in der Praxis funktionierts. Wir haben die gleichen Wertvorstellungen und sind ähnlich erzogen worden», sagt Sasha Scherrer. Beide sind sie auf verschiedene Art kreativ – Jan fotografiert hobbymässig, sie malt –, beide aber lieben das Kochen, vorwiegend die mediterrane Küche. «Nur beim Risotto, Jans Lieblingsspeise, sind wir uns uneinig.»
Jan Scherrer hat privat wie beruflich einen Lauf. «Mit 27 Jahren bin ich auf dem Höhepunkt meiner Leistungen angekommen», sagt er, der 2011 den Nachwuchspreis der Schweizer Sporthilfe gewann. Nach seinen zweiten Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang – er wird Neunter – hinterfragt er sich. «Ich zweifelte, ob sich die ganze Arbeit lohnt, wenn dies das Maximum ist, was ich erreichen kann. Und ich wusste auch nicht, ob ich überhaupt genügend Talent für Podestränge besitze.»
Der Wechsel kommt, als er aufhört, andere Fahrer zu kopieren, dafür seine eigenen Stärken auf ein höheres Level bringt. In Crans-Montana trainiert er, bedingt durch Corona, nicht in der Halfpipe, sondern mit Airbags. «Wochenlang sprang ich in Luftkissen. So konnte ich viele Sprünge ausprobieren.» So kams zum hochkomplexen und physikalisch anspruchsvollen Trick «Switch Alley-Oop Double Rodeo 1080 Indy to Nose» – kurz «Jan Tonic». Der Name des Sprungs stammt nicht von ihm, «den haben meine Fans erfunden», meint er bescheiden. Hat er wenigstens gern Tonic mit was drin? Jan lacht: «Ja, aber ich bin vor allem ein Kaffeeliebhaber.»
Jan Scherrer schaut auf seine Bronzemedaille. Im Finallauf ging er «all in» und steht den «Jan Tonic» das erste Mal überhaupt in einem Wettbewerb. «Dass mein Wunschlauf für Olympia tatsächlich funktionierte, darauf bin ich am meisten stolz.» Er blickt zu Sasha. «Kann gut sein, dass die Tatsache, dass wir ein Baby erwarten, der Auslöser für all meinen Erfolg ist.»