Thomas Heiniger, 62, ist keiner, der gerne zurücklehnt. Nach zwölf Jahren als Zürcher Regierungsrat hat er kurz vor seinem Rücktritt im April noch ein neues Spitalgesetz aufgegleist – nun folgt mit dem Präsidium des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) fast Schlag auf Schlag das nächste grosse Amt.
In seinem Büro im Berner Monbijou-Quartier fühlt sich der Vater dreier erwachsener Kinder bereits angekommen. «Und in der Aare war ich auch schon schwimmen!» Von seinen Kollegen bei der Gesundheitsdirektorenkonferenz, die er ebenfalls präsidierte, hat er als Abschiedsgeschenk einen Kästlischlüssel fürs Marzili-Bad bekommen. «Wer braucht da noch Ferien!»
Herr Heiniger, Ihre Vorgängerin, Annemarie Huber-Hotz, sagte, das Elend auf der Welt sporne sie an. Was hat Sie dazu motiviert, das Amt des Rotkreuz-Präsidenten zu übernehmen?
Ich habe das Glück, frei, autonom und selbstbestimmt leben zu können. Meine Motivation ist, dass möglichst viele Menschen auf der Welt dies ebenso tun können. Das Rote Kreuz als humanitäre Organisation deckt sich mit seiner Menschlichkeit und seiner Vielfalt voll mit meinen Werten. Zudem mache ich jetzt nur noch das, was ich wirklich sinnvoll finde.
War Ihr Amt zuvor nicht sinnvoll?
(Lacht.) Doch, natürlich! Ich habe für die Politik gelebt. Aber für die Humanität zu leben, erfüllt mich noch mehr.
Dann mussten Sie nicht lange überlegen, als die Anfrage vom SRK kam?
Nein, die Institution, das Amt passen zu mir. Als Stadtpräsident von Adliswil habe ich die kommunale Ebene erlebt, als Regierungsrat die kantonale und als Gesundheitsdirektoren-Präsident die nationale. Beim SRK kommt die internationale Perspektive dazu. Davor habe ich grossen Respekt. Für eine so renommierte Marke einzustehen, ist eine Herausforderung. Das Amt spornt mich an, da wächst mein Gestaltungswille.
Im Regierungsrat konnten Sie die Zürcher Gesundheitspolitik massgeblich prägen. Beim SRK sind Sie Vorsteher einer riesigen Organisation mit 24 Kantonalverbänden und 4800 Angestellten. Kann man da überhaupt gestalten?
Ja, das Schweizerische Rote Kreuz ist eine komplexe Organisation. Sie ist nicht nur im In-, sondern auch im Ausland tätig, pflegt Beziehungen zu einer Vielzahl verschiedener Verbände, dem Staat, den Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften auf der ganzen Welt. Trotzdem: Das ist nicht lähmend – es fordert mich heraus.
Das klingt ganz nach Sportler. In Zürich sind Sie von Ihrem Wohnort Adliswil in die Stadt ins Büro gejoggt. Und nach Bern?
Ich pendle mit dem Zug. Zwei Tage die Woche. Das geht tipptopp.
Hatten Sie in der Vergangenheit denn schon Berührungspunkte mit dem Roten Kreuz?
Ich habe gespendet. Das Rote Kreuz lebt ja nicht nur von den Freiwilligen, sondern auch von den Spendefreudigen. Aber «Tun» ist nochmals eine Dimension mehr. «Tun» ist übrigens eines meiner Lieblingswörter. Das Amt gibt mir nun Gelegenheit, noch mehr zu tun. Und: Darüber freut sich auch meine Mutter.
Weshalb?
Sie ist 94 Jahre alt und dement. Sie erkennt mich noch, und woran sie sich gut und gerne erinnert: Ihre Mutter, mein Grosi, hat vor mehr als 70 Jahren für den Rotkreuz-Basar Seelenwärmerli gestrickt. Das Rote Kreuz brennt sich also nicht nur ins Herz ein – sondern auch lebenslänglich in den Kopf.
Sehen Sie beim Roten Kreuz Entwicklungspotenzial?
Annemarie Huber-Hotz hat acht Jahre lang einen tollen Job gemacht. Das bedeutet nun aber nicht, das alle Fragen beantwortet sind und jedes Elend gelindert ist. Die Welt ist im Umbruch und mit ständig neuen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Digitalisierung konfrontiert. Es gibt noch viel zu tun.
Zum Beispiel?
Das Rote Kreuz ist schon seit einiger Zeit daran, die Strategie für 2030 zu erarbeiten. Die Werte, Mission und Vision sind gesetzt, die muss ich nicht neu definieren. Mein Ziel ist, dass wir alle Mittel möglichst effizient und effektiv einsetzen und Hilfe direkt wirkt. Und zwar im In- und Ausland. Auch bei uns in der Schweiz gibt es Katastrophen. Die Auswirkungen habe ich mir schon selber vor Ort angesehen.
Wo?
Letztes Jahr führte ich den Zürcher Regierungsrat nach Bondo im Bergell, wo wir mit der Gemeindepräsidentin Anna Giacometti reden konnten. Der Bergsturz und die Murgänge waren für viele Menschen mit Elend verbunden. Das SRK muss dort genauso vor Ort sein wie bei Dürrekatastrophen im Südsudan, die in den nächsten Jahren durch den Klimawandel noch zunehmen werden.
Ich sehe, Sie sind in Sachen Klima auf der neuen Linie Ihrer Partei, der FDP!
Selbstverständlich muss sich auch die FDP mit dem Thema auseinandersetzen. Sie ist ja keine Einthemenpartei. Der Klimawandel ist eine zentrale Frage – und das nicht erst, seit die junge Schwedin Greta nach Davos gepilgert ist.
Der Aussenminister Ignazio Cassis ist ja ebenfalls ein Parteikollege von Ihnen. Kennen Sie sich?
Ja, gut sogar. Aus der Gesundheitspolitik. Da waren wir aber nicht immer der gleichen Meinung. Unserer Beziehung hat das nicht geschadet, sondern sie bereichert.
Bundesrat Cassis will, dass sich die Entwicklungshilfe mehr auf die Schweiz konzentriert und stärker mit der Migration verknüpft wird. Was halten Sie davon?
Natürlich kann ich seine Forderung nachvollziehen, dass wir das Geld aus der Schweiz vermehrt in der Schweiz investieren müssen. Ich glaube aber auch, dass die Migration nicht die einzige Herausforderung ist. Und ich bin der festen Überzeugung: In der reichen Schweiz ist es möglich, über die Grenzen hinauszuschauen. Wir können uns auch für andere einsetzen. Nein, mehr noch, wir müssen uns für andere einsetzen!
Also ist ein Rückzug aus Süd- und Mittelamerika, wie Cassis es will, kein Thema?
Das Wichtigste ist für mich die Koordination. Wenn sich zeigt, dass andere Organisationen Südamerika gut abdecken, müssen wir nicht auch noch am gleichen Ort wirken. Aber: Kein Mensch soll in seiner Katastrophe, seiner Krise alleine gelassen werden. Das gilt auch für die Schweiz – Pro Senectute, Spitex, Rotes Kreuz, Staat – wir müssen unsere Hilfe aufeinander abstimmen. Im Ausland ist es komplizierter. Davon konnte ich mir schon Eindrücke machen.
Wo?
Meine älteste Tochter Martina arbeitete während vier Jahren für die Uno und die Genossenschaft für internationale Zusammenarbeit in Afrika. Meine Frau und ich haben sie in Tschad besucht. Ich erlebte unmittelbar vor Ort und aus ihren Erzählungen, wie wichtig es ist, dass sich die Hilfswerke untereinander und mit dem Staat absprechen, ihre Einsätze und Leistungen koordinieren.
Waren Sie schon oft in Drittweltländern unterwegs?
Ich war zwar oft unterwegs. Besuche in abgelegenste Gebiete oder Reisen in Krisenherde fehlen mir noch. Dafür haben wir unsere zwei Töchter und meinen Sohn zu offenen Weltenbürgern erzogen. Sie besuchten Rotary-Austauschjahre, haben Beziehungen in beinahe jede Ecke der Welt. So lernten sie, dass die Globalisierung auch friedensstiftend ist. Wenn man sich kennt, tut man sich weniger weh. Meine Kinder haben mit der Auswahl ihrer Partner die Welt gut abgedeckt (lacht).
Woher kommen sie?
Ich habe einen tollen Schwiegersohn aus Tschad und eine liebe brasilianische Schwiegertochter.
Sind Sie schon Grossvater?
Wenn alles gut geht, werde ich im September zum ersten Mal Grossvater.
Neben dem Amt als SRK-Präsident stehen Sie neu auch der Spitex vor. Ein Vorteil?
Ja, diese Zusammenarbeit und Verbindung kann nützen. Ich erfahre von beiden ihre Anliegen, kann vermitteln und abstimmen.
Sowohl das Rote Kreuz als auch die Spitex betreuen ältere Menschen und entlasten die pflegenden Angehörigen. Das SRK macht das mit Freiwilligen. Müsste der Staat diese Arbeit vermehrt entschädigen?
Ich finde diese Entlastung wichtig und richtig. Persönlich stehe ich einer direkten finanziellen Entschädigung von Angehörigen sehr kritisch gegenüber. Wenn der Staat Steuergelder an betreuende Angehörige auszahlt, muss er auch die Qualität der Leistung sichern. Und ich will beispielsweise nicht, dass der Staat mir dreinredet, wie ich die Betreuung meiner Mutter organisiere. Sie wird sich übrigens über diese SI freuen – sie kommt exakt an ihrem 94. Geburtstag raus.