Die glühenden Elektroöfen und der Lärm des Schrotts, den die Magnetkräne im Stahlwerk Gerlafingen ins Feuer werfen, lassen Roger Nordmanns Gesicht erstrahlen. «Ich bin gerührt, diese Fabrik zum ersten Mal in vollem Betrieb zu sehen, denn bei meinen früheren Besuchen, als die Zukunft des Stahlwerks düster aussah, stand sie praktisch still.»
In Solothurn, im letzten grossen Stahlwerk des Landes, hatte SP-Nationalrat Roger Nordmann (52) im vergangenen Jahr einen seiner grössten politischen Coups gelandet: Zusammen mit SVP-Kollege Christian Imark rettete er das Werk vor der Schliessung. Nun tritt der Waadtländer nach 21 Jahren und über 22000 Abstimmungen aus dem Bundesparlament zurück. «Ich habe das Bedürfnis, den Fuss mal vom Gas zu nehmen», sagt Nordmann, der sich nur noch seinen wenigen Verwaltungsratsmandaten, seiner Beratertätigkeit und seinen Vorträgen widmen will.
Sein Kampf hat sich gelohnt. Roger Nordmann sieht zum ersten Mal den schmelzenden Stahl im Werk von Gerlafingen SO.
Remo Naegeli«Die Flut von Danksagungen in den letzten Tagen erstaunt mich», sagt der Politiker, der immer eine Art Anti-Star der Schweizer Politik gewesen war. Auch hier im Stahlwerk, das er kurz nach seinen letzten Tagen im Parlament nochmals besucht, kommen die Arbeiter auf ihn zu und begrüssen ihn, als wäre er einer von ihnen. Das liegt sicher auch daran, dass Nordmann neben Französisch sehr gut Deutsch und Italienisch spricht.
Gewiefter Stratege
Nordmann gilt als einer der einflussreichsten Energiepolitiker der Schweiz, in den zwei Jahrzehnten im Parlament hat er zahlreiche Kompromisse geschmiedet. Einer davon war die Energiestrategie 2050, die am 21. Mai 2017 vom Stimmvolk angenommen wurde. Zudem hat er acht Jahre lang die Fraktion der Sozialdemokraten präsidiert und geprägt. «Er war einfach der beste Handwerker unter der Bundeshauskuppel. Ich bin sehr traurig, dass er sich entschieden hat zu gehen. Er ist unersetzlich und wird nicht nur in Bern, sondern im gesamten politischen Leben der Schweiz fehlen», sagt die SP-Vizepräsidentin und Zürcher Nationalrätin Jacqueline Badran (63).
Emotionaler Abschied mit SP-Nationalrätin Jacqueline Badran.
Remo Naegeli«Kreativ und loyal»
Am Vorabend des Industrieausflugs nach Solothurn hat Nordmann die SP-Fraktionskolleginnen und -kollegen in Bern in die Pizzeria Da Keli eingeladen, nur wenige Schritte vom Bundeshaus entfernt. Es ist der letzte Tag der Wintersession und damit die allerletzte von 82 Sessionen in der Karriere von Zahlenfreund Nordmann.
Beim Anstossen mit Weisswein und Prosecco mit dabei ist auch Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (57). Er macht kein Geheimnis aus den Meinungsverschiedenheiten, die ihre lange und freundschaftliche Zusammenarbeit als manchmal rivalisierende Parteifreunde geprägt hat: «Ich kenne Roger seit 30 Jahren. Wir hatten nicht immer die gleichen Prioritäten.» Doch unterschiedliche Sensibilitäten seien in einer grossen Partei wie der SP absolut notwendig. Auf persönlicher Ebene sehe er drei Qualitäten an ihm. «Erstens ist er ein enormer Arbeiter mit einer sehr hohen Effizienz. Und das nicht nur in Bern.»
Als Maillard Präsident der SP Waadt war und jemanden brauchte, der in einer Krisensituation schnell einen Text zu einem schwierigen Thema schrieb, klopfte er stets bei Nordmann an. «Innerhalb von zwei Stunden war er in der Lage, eine einwandfreie Arbeit abzuliefern.» Zudem habe Nordmann Ideen. «Kreativität kommt in der Politik nicht so häufig vor.» Nicht zuletzt sei er loyal und halte immer Wort. Nordmanns Arbeit für das Stahlwerk in Gerlafingen habe ihm bei den Gewerkschaften enormen Respekt eingebracht.
«Er hat uns als Jungpolitiker ins Parlament eingeführt.» Tamara Funiciello und Fabian Molina (r.), Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (Mitte).
Remo Naegeli«Nie das Familienleben geopfert»
Eine 20-jährige Frau ist ebenfalls anwesend: Roger Nordmanns eigene Tochter, die zu Beginn seiner Karriere in Bern geboren wurde. Die Politikwissenschaftsstudentin an der Uni Lausanne ist zurückhaltend und will sich nicht vor die Kamera stellen. Auskunft über ihren Vater gibt sie allerdings gern: «Er hat es verstanden, seine Vaterrolle neben seinem politischen Engagement gut zu meistern. Ich hatte nie das Gefühl, dass er sein Familienleben opferte.» Es sei immer interessant, mit ihm zu sprechen, weil er seine Interessen und sein Wissen über alle möglichen Bereiche teile – nicht nur über die politischen Dossiers, mit denen er sich beschäftige. Die Studentin vertritt die gleichen politischen Ansichten wie ihr Vater. «Ich weiss aber noch nicht, ob ich mich ebenfalls in die Polit-Arena begeben werde». Ihr Vater wiederum wird lernen müssen, ausserhalb des «Dauerlaufs» der Politik zu leben, den er sich so viele Jahre lang auferlegt hat.
Getrennt in ein neues Leben
Im Zug zurück in seine Heimat Lausanne geniesst Roger Nordmann ein allerletztes Mal sein 1.-Klasse-GA als Nationalrat. Um dieses Bahnprivileg zu ersetzen, plante er, in ein bescheideneres Halbtax Plus zu investieren. «Das sollte mir genügen, denn ich werde nicht mehr Zehntausende von Kilometern mit dem Zug zurücklegen», sagt Nordmann mit einer gewissen Erleichterung, auch wenn er dieses Verkehrsmittel sehr liebe. Die Zugstewardess, die das Abteil betritt, um Getränke anzubieten, erkennt den SP-Politiker. «Aber warum sind Sie zurückgetreten, Herr Nordmann? Warum gehen immer die Besten? Sie haben in Bern einen tollen Job gemacht!», ruft die Elvetino-Angestellte. Auf dem Bahnsteig in Lausanne ist es eine Gruppe Deutschschweizer Rentner, die ihm gratuliert und auf den Rücken klopft. Roger Nordmann lächelt.
Für ihn beginnt ein völlig neues Leben, da er sich vor sechs Monaten von seiner Frau, der Lausanner Stadträtin Florence Germond (55) getrennt hat. Aber auch diese Veränderung nimmt er stoisch hin: «Die Tatsache, dass ich jetzt single bin, hat dazu geführt, dass ich viel öfter als früher abends mit Freunden in die Stadt gehe.»