Eigentlich könnte Islam Alijaj (36) auch mit einem Rollator gehen. «Doch zum einen braucht das enorm viel Kraft, zum anderen ist in der Politik der Small Talk das A und O – das kann ich im Rollstuhl besser», sagt er und schmunzelt. Dann fährt der Zürcher SP-Gemeinderat über die Behindertenrampe ins Parlamentsgebäude.
Bei der Geburt hat Islam Alijaj zu wenig Sauerstoff bekommen. Dies führte zu einer Zerebralparese, einer Hirnschädigung, aufgrund welcher die Betroffenen nur wenig Kontrolle über ihre Muskeln und Bewegungen haben. «Und weil die Zunge auch ein Muskel ist, habe ich neben der körperlichen auch eine verbale Behinderung», sagt Alijaj. Wenn er redet, klingt dies wie ein Lallen, das man nach kurzer Angewöhnung aber gut versteht.
Doch gerade diese Sprechbehinderung führt dazu, dass Alijaj immer wieder unterschätzt wird. «Man dachte stets, ich sei auch geistig behindert.» Die Folge: Er muss in die Sonderschule, und die KV-Lehre absolviert er im geschützten Bereich – obwohl er dies nicht will. «Mit 16 Jahren hatte ich das schulische Niveau eines Sechstklässlers.»
Doch er holt auf und schliesst seine Lehre mit einem Notendurchschnitt von 5,2 ab. Die Berufsmatura bleibt ihm aber wiederum verwehrt – die IV und sein Lehrbetrieb raten ihm davon ab. Es ist Alijajs politisches Schlüsselerlebnis.
Heute ist Alijaj «Handicap-Lobbyist», wie er ironisch sagt, und Präsident von Tatkraft, einem Verein zur Förderung des Potenzials von Menschen mit Behinderung. Seit einem Jahr sitzt der Schweizer mit kosovarischen Wurzeln im Zürcher Gemeinderat.
Und am 24. März ist er eine von 44 Personen mit Beeinträchtigung, die ausgewählt wurden, an der ersten Behindertensession im Bundeshaus teilzunehmen.
44 – das entspricht 22 Prozent der Sitze im Nationalrat und jenem Anteil an Menschen mit Behinderung in der Bevölkerung. «Das Wichtigste ist für mich, dass diese 1,8 Millionen ein eigenständiges Leben führen können – was im Moment oft nicht der Fall ist.»
Die Uno rügte die Schweiz vergangenes Jahr, weil sie die «Rechte der Menschen mit Behinderungen verletzt». So etwa würden sie im öffentlichen Leben zu wenig vor Diskriminierung geschützt, es fehle an angepassten Arbeitsstellen und an einer politischen Strategie für ein inklusives Schulsystem.
«Packt uns nicht von Geburt an in Watte ein – wir müssen Erfahrungen sammeln», fordert Alijaj. Für ihn ist klar: «Im Behindertenwesen braucht es eine Revolution.» Deshalb kandidiert er für den Nationalrat.
Die grösste Motivation für sein Engagement sind seine Kinder Bakir (9) und Gjeneta (5). «Ich möchte ein Vorbild für sie sein – und zeigen, dass man als Mensch mit Behinderung etwas bewegen kann», sagt er beim Besuch daheim in Zürich Albisrieden. Neben dem «Uno»-Spielen zu Hause fahren die Kinder am liebsten mit ihrem Papi auf dem Rollstuhl durch die Gegend. «Wenn ich mit ihnen Zeit verbringe, vergesse ich meine Behinderung», sagt Alijaj.
Auf die Frage, was sie mal werden wollen, antwortet die Tochter: «Lehrerin!» und der Sohn: «Politiker wie der Papi – oder Fussballer.» Auch seine Frau Gjeva (35), die als Reinigungskraft arbeitet, ist stolz auf ihren Mann. Die beiden sind seit zehn Jahren verheiratet. Bei seinem Antrag sagte sie: «Ich sehe deine Persönlichkeit, nicht deine Behinderung.» Zu Hause stützen sie oder seine Kinder ihn beim Gehen – den Rollstuhl lässt Alijaj jeweils im Hauseingang stehen.
Besonders kritisiert der Aktivist und Projektleiter die Wohnsituation von Behinderten. «Wir müssen davon wegkommen, dass Menschen mit Behinderung nur in Heimen wohnen können.»
Statt Gelder dort zu investieren, würden man lieber die Beiträge an die Unterstützung durch Assistenzpersonen erhöhen. Für Alijaj sind diese «der Schlüssel zur Selbstbestimmung».
Seine Assistenzperson heisst Louise Alberti, ist 23 und studiert Politikwissenschaften. Sie begleitet ihn zu Sitzungen im Gemeinderat, in die Kommission oder bei öffentlichen Auftritten. «Eine Ausbildung zur Assistenzperson gibts nicht – das war Learning by Doing», sagt sie.
Alijaj diktiert ihr jeweils seine Voten, die sie für ihn vorträgt – gerade etwa bei längeren Gesetzespassagen. «Es ist eine Ergänzung, aber ich spreche ebenfalls.» Er habe es satt, dass die starke Heimlobby und die Arbeitgeberverbände die Debatte über Behinderte prägen.
Von seiner Kritik nahm er bisher auch Innenminister Alain Berset nicht aus, der seit der Ratifizierung der Uno-Behindertenkonvention 2014 «zu wenig in die Offensive ging». Letzte Woche hat nun Berset unter anderem entschieden, Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben besser zu integrieren und die Gebärdensprache zu anerkennen.
Doch ist für Alijaj klar: In Bern müssen Behinderte selber mitreden. «Bei der Frauenbewegung oder LGBTIQ haben die betroffenen Menschen die politischen Revolutionen vorangetrieben – das muss auch bei uns so sein.»