Das Meer vor der Küste Barcelonas ist aufgewühlt, doch die «Boat Zero» liegt ruhig im Wasser. Dann nimmt das Segelboot an Fahrt auf – und hebt plötzlich ab. Mit 80 km/h jagt es buchstäblich durch die Luft, denn das 6,2 Tonnen schwere Trainingsboot ist nur noch durch zwei Foils, Tragestützen, mit dem Meer verbunden. Was für ein anderes Bild als 2003, als die Alinghi das Binnenland Schweiz erstmals in eine Segeleuphorie stürzte, damals noch im und nicht über dem Wasser!
«Es ist ein unglaubliches Gefühl, wirklich wie fliegen», beschreibt Nico Stahlberg (31) dieses sogenannte «Foilen», das die Segel- und Surfwelt im vergangenen Jahrzehnt revolutioniert hat. «Man sucht das Gefühl der Leichtigkeit, wie wir das beim Rudern auch getan haben.» Der Thurgauer ist Gesamtweltcupsieger und zweifacher Olympiateilnehmer im Rudern.
Segeln? Kann er nicht. Und lernt es nun auf einem der schnellsten Boote der Welt, was die Mitsegler zum Schmunzeln bringt. Zumindest lernt er das, was er wirklich wissen muss. Denn bei der Bootsklasse des nächsten America’s Cup, der AC75, gehören vier von acht Athleten auf dem Boot zur Power-Group. Deren Arbeit besteht zu 90 Prozent darin, die Energie für die Hydrauliksysteme der Rennjacht zu generieren, mit denen etwa die Segel und Foils bewegt werden. Auch Stahlbergs ehemalige Ruderkollegen Barnabé Delarze und Augustin Maillefer sind dabei, ebenso Bahnrad-WM- und EM-Medaillengewinner Théry Schir.
Das Boot wird erst entwickelt
Diese treffen im Boot auf die besten Schweizer Segler, denn die Crew darf nur noch aus der Nation des teilnehmenden Segelklubs stammen. Aus jener vielseitigen Gruppe das beste Segelteam der Welt zu machen, ist nur eine der Herausforderungen der kommenden zwei Jahre. Denn: Das Wettkampfboot wird erst 2023 in Ecublens VD gebaut. Und weil noch nicht sicher ist, wie dieses genau aussieht, sind auch gewisse Rollen auf dem Boot noch unklar. Gibt es einen oder zwei Skipper? Erzeugt die Power-Group die Energie mit den Armen oder den Beinen?
Zurzeit wird deshalb auf allen Ebenen trainiert und getestet, die Lernkurve ist steil. Rund 18 Leute fahren auf Motorbooten bei jedem Training mit: von den Segel- und Foil-Designern über einen Sicherheitstaucher bis zu Spezialisten, die das Boot beobachten und gleichzeitig auf dem Laptop Leistungsdaten verfolgen und analysieren. Zwischen den pfeilschnellen Fahrten stoppt das Boot immer wieder, dann wird das Gezeigte besprochen, und weiter gehts – mehrere Stunden lang!
Hilfe für die Entwicklung des Boots kommt direkt aus der Formel 1 – Alinghi spannt neu mit Red Bull zusammen. Es war auch diese Herausforderung im Hightech-Bereich, die den Genfer Milliardär Ernesto Bertarelli so fasziniert hat, dass er nach ein paar Jahren Pause wieder ins America’s-Cup-Rennen einsteigen wollte.
Unverhofft wieder Profisportler
Bis die Crew in einer geraden Linie «fliegen» konnte, dauerte es ein bisschen. Die Segelszene in der Schweiz ist überschaubar, man kennt die Fähigkeiten. Doch um die Power-Group zu finden, waren ausgedehnte Analysen und Tests nötig – unter körperlich sehr fitten Seglern und Restsportlern.
Bei Nico Stahlberg kam die Einladung zu den Tests noch in der Reha-Phase nach einer Hüftoperation, ausserdem war er bereits zurückgetreten. Doch 2016 hat er bei einem längeren Trainingsaufenthalt in Australien bereits mal Segelluft geschnuppert – und als diese Chance kam, gab er alles. «Beruflich ging es perfekt auf», im August hat der gelernte Forstwart sein Studium der Waldwissenschaften abgeschlossen, nun ist er unverhofft wieder Profisportler. «Ich bin sehr, sehr froh darüber, wo ich jetzt bin», sagt
der Thurgauer, der früher ein Alinghi-Poster in seinem Zimmer hängen hatte.
Stahlberg lebt alleine mitten in Barcelona, eventuell kommt seine Freundin, eine Lehrerin, nach dem nächsten Schuljahr nach. «Der Alltag der Power-Group besteht momentan vor allem darin, mit Velofahren und Krafttraining so fit wie möglich zu werden.» Ausserdem helfen alle Beteiligten beim Bereitmachen, Putzen und Verstauen des Boots, was gerne mal drei Stunden in Anspruch nimmt. Was nach einem riesigen Gewusel auf Deck aussieht, ist top organisiert: Jeder kennt seine Rolle. Dann werden per riesigem Kran zuerst die Segel, der Mast und schliesslich das Boot in eine Werft gehoben.
Bertarelli verlangt viel, lässt aber auch Freiheiten
Ist noch etwas übrig vom Geist der siegreichen America’s-Cup-Kampagnen von 2003 und 2007? Ja, sagt Nils Frei, damals Segler und heute Headcoach. «Die Art, wie die Alinghi funktioniert, die Werte, die wir pflegen. Respekt, Offenheit, Vertrauen zu den Leuten.» Bertarelli verlange viel, vertraue dem Team aber auch und lasse ihm Freiheiten. «Das konnte er früher rüberbringen – und auch jetzt.» Es ist ein Abenteuer, das in den kommenden zwei Jahren in Barcelona auf die Schweizer wartet. Eine Suche nach Leichtigkeit, hart erarbeitet. Die Alinghi Red Bull Racing: bereit zum Abheben.