Wer träumt nicht von einem Haus am Meer? Einem Ort, an dem man zum Rauschen der Wellen ein- schläft, an dem das Licht sanft durch perfekt platzierte Fenster dringt und sich jedes Möbel organisch in den Raum einfügt? Die irische Architektin Eileen Gray (†98) hat sich diesen Traum im Jahr 1929 an der französischen Riviera erfüllt.
Doch ihre Villa «E.1027» ist mehr als ein Haus mit Meerblick – der avantgardistische Bau, der wie ein weisses Schiff am Himmel schwebt, ist eine architektonische Revolution. Erdacht von einer Frau, die sich weigerte, nach den Regeln ihrer Zeit zu spielen. Es ist aber auch der Schauplatz einer Geschichte voller Neid.
Star der Pariser Designszene
Geboren 1878 in der Grafschaft Wexford im Südosten Irlands, hat Eileen Gray eigentlich alles, wovon junge Frauen damals träumen: einen adligen Namen, Wohlstand und beste gesellschaftliche Verbindungen. Doch die junge Frau möchte mehr. «Ich will die Art, wie Menschen leben, neu erfinden», erklärt sie ihrer Familie. Statt zu heiraten und sich in die feine Gesellschaft einzufügen, zieht Eileen mit 25 Jahren nach Paris, um an der Kunstakademie zu studieren – zu der Zeit ein Skandal für eine Frau in ihrer Position.
Zwischen Künstlerinnen und Freigeistern entwickelt Gray ihren unverwechselbaren Stil. Sie ist eine der Ersten ihrer Zeit, die mit verchromtem Stahl und Aluminium arbeiten. Die industriellen Materialien kombiniert sie mit weichem Leder. «Man muss die Materialien zum Sprechen bringen», so ihre Überzeugung. Ihre innovativen Möbel machen sie zum Star der Pariser Designszene. «Endlich jemand, der versteht, dass ein Sessel mehr sein muss als ein Thron für das Ego», schwärmt Modeschöpferin Coco Chanel, die zu ihren ersten Kundinnen gehört.
Unkonventionell tickt Gray auch privat. Im Pariser Quartier Montparnasse lebt sie offen bisexuell, hat Beziehungen sowohl zu Frauen als auch zu Männern. Mit 42 verliebt sie sich in den 15 Jahre jüngeren, charismatischen Architekturkritiker Jean Badovici. «Wir fanden uns in der Arbeit. Er berührte mich tief», wird Gray im neuen Schweizer Film «E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer» zitiert. Badovici ermuntert Gray, ein Haus zu bauen. Zusammen reisen sie an die Côte d’Azur und finden bei Roquebrune, wo die steilen Klippen ins Mittelmeer stürzen, den perfekten Ort für ihr persönliches Refugium. Der Name «E.1027» ist ihre verschlüsselte Liebeserklärung an Badovici. Das «E» für Eileen, die «10» für den zehnten Buchstaben des Alphabets, das J, «2» für B und «7» für G wie Gray.
Aus Bewunderung wird Obsession
Drei Jahre arbeitet Gray wie besessen an ihrem Traumhaus. Jedes Detail überdenkt sie 100-mal. «Ein Haus muss wie eine zweite Haut sein, perfekt angepasst an die Bedürfnisse seiner Bewohner.» Auch die Möbel, die sie für das Haus entwirft, folgen dieser Haltung. Der berühmteste Entwurf ist der «E-1027 Adjustable Table» – ein höhenverstellbarer Beistelltisch mit kreisrunder, seitlich verschiebbarer Glasplatte. Gray entwirft ihn, um im Bett frühstücken zu können.
Drei Jahre nach Fertigstellung des Hauses zerbricht die Beziehung von Badovici und Gray. Sie sucht Rückzug und Ruhe – er will feiern und Besucher aus der ganzen Welt im Haus am Meer empfangen. Einer seiner berühmten Gäste ist der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier. «Dieses Haus ist ein Meisterwerk», gesteht der Meister der Moderne, «ich kann nicht aufhören, daran zu denken.» Was als Bewunderung beginnt, entwickelt sich zur Obsession. Wenn er das Haus schon nicht selber entwickelt hat, will er es symbolisch in Besitz nehmen.
1938 und 1939 malt Le Corbusier – häufig nackt – grelle Wandbilder auf die makellosen weissen Wände. Gray, die inzwischen im eigens gebauten Haus «Tempe à Pailla» im gut zehn Kilometer entfernten französischen Bergdorf Castellar lebt, gab nie ihr Einverständnis dazu. «Die Bilder sind ein Akt der Vergewaltigung», sagt sie später. Niemals mehr wird sie einen Fuss in das in ihren Augen entweihte Haus setzen. Doch Le Corbusier ist von seiner Mission überzeugt. «Ich bringe Leben in diese sterile Perfektion», prahlt er. Doch damit nicht genug: Er baut sich nebenan selber eine kleine Hütte, von der aus er das Haus stundenlang beobachtet. Bis zu seinem Tod 1965 – er hat beim Schwimmen in Sichtweite von «E.1027» einen Herzinfarkt.
Gray bleibt trotz schwerer Parkinsonerkrankung bis ins hohe Alter kreativ. In ihrem Pariser Appartement lebt sie zurückgezogen, entwirft aber weiter Möbel und experimentiert mit Materialien. Erst mit 98 Jahren legt sie den Zeichenstift aus der Hand. Während Grays Werk lange unterschätzt wird, feiert die Welt Le Corbusiers Wandbilder als Kunst. Doch die Zeit gibt ihr recht.
Sammlerstücke und Kultmöbel
Heute gilt das Haus «E.1027» als Jahrhundertwerk, das seiner Zeit weit voraus war. Perfekt restauriert und für Besucher zugänglich, thront es über dem Mittelmeer. Grays Möbel erzielen Rekordpreise: Ein Original des berühmten «E-1027»-Beistelltischs wird für sechsstellige Summen gehandelt, eine lizenzierte Neuauflage des Kultmöbels ist heute auch für das breite Publikum zugänglich. Zum Schluss zeigt der Film – halb Doku, halb Fiktion – eine Originalaufnahme von Eileen Gray 1975, ein Jahr vor ihrem Tod. Auf die Frage im Interview, ob es sie amüsiert, dass ihre Arbeiten 50 Jahre nach deren Entstehung wieder in Mode sind, lacht sie und sagt: «Ja, das tut es.»
Der Schweizer Film «E.1027 - Eileen Gray und das Haus am Meer» läuft derzeit im Kino.