Hier wird Ignazio Cassis, 60, wie ein Superstar empfangen. In Nigers Hauptstadt Niamey warten die Menschen mit einem roten Teppich vor dem Bundesratsjet. In traditionellen Kleidern und mit lauter Trommelmusik feiern sie die Ankunft des hohen Gastes aus der Schweiz. Am Flughafen und in der Stadt hängen riesige Poster mit Cassis’ Porträt. «Ich bin fast ohnmächtig geworden, als ich die Plakate gesehen habe», sagt er und lacht. «Als Aussenminister bin ich mich einiges gewohnt. Aber als Bundespräsident nimmt das alles zu.
Seit Jahresbeginn steht Ignazio Cassis der Landesregierung vor. Der Tessiner startet in ein herausforderndes Jahr: Die Beziehung zur EU muss geklärt werden, beim Sympathie-Ranking der Bundesräte belegt er den letzten Platz, die Pandemie spaltet das Land, und die Ukraine-Krise spitzt sich zu. Trotzdem liegt dem FDP-Politiker der dreitägige Besuch in Afrika am Herzen: «Als Arzt ist mir diese Reise besonders wichtig. Deshalb habe ich sie zusammen mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und dessen Präsidenten Peter Maurer geplant.» Der westafrikanische Krisenstaat gilt als eines der ärmsten Länder der Welt mit einem Durchschnittseinkommen von einem Franken pro Tag. Fast die Hälfte der Kinder sind unterernährt. Dürren, Überschwemmungen und bewaffnete Konflikte plagen das Land.
Beziehungen stärken
Nach der Landung trifft Cassis Ni-gers Präsidenten Mohamed Bazoum. Vor dem bewachten Präsidentenpalast spielt die Militärmusik zuerst die Schweizer Nationalhymne, danach die einheimische. «Niger ist entscheidend für die Stabilität Afrikas, aber auch für Europa», sagt Cassis. Migranten aus Staaten wie Mali, Burkina Faso oder Nigeria durchqueren das Land, um nach Libyen zu kommen und von dort das Mittelmeer zu überqueren. «Darum möchten wir die Beziehungen zu Niger stärken.»
Am folgenden Tag wird die geplante Flugreise wegen eines Sandsturms kurzfristig abgesagt. Cassis bestellt den Piloten zu sich, redet kurz mit ihm und sagt dann zur Delegation, der auch Nationalratspräsidentin Irène Kälin, 35, angehört: «Wir fliegen nun doch. Es ist nicht gefährlich, im schlimmsten Fall können wir nicht landen und müssen zurückkehren.» Ihm sei es wichtig, die Projekte vor Ort zu sehen und nicht nur in klimatisierten Konferenzräumen davon zu lesen.
Wichtiger Grundstein
In Chadakori, einer Gemeinde an der Grenze zu Nigeria, besucht Cassis eine Schule, die von der Direktion für Zusammenarbeit und Entwicklung (Deza) unterstützt wird. Die Deza ist seit 1978 in Niger tätig. Als er das volle Klassenzimmer betritt, winkt er den Kindern und fragt: «Wer spricht Französisch?» Niemand meldet sich. «Für sie bin ich wahrscheinlich so etwas wie ein Marsmännchen», sagt Cassis später. Rund ein Drittel der Schülerinnen und Schüler sind Flüchtlinge aus den Nachbarländern. Viele sprechen weder Französisch, noch können sie lesen und schreiben. «Hier sieht man die Herausforderungen der humanitären Hilfe», sagt der Bundespräsident. «Wir können nicht einfach mit unseren Schweizer Vorstellungen alles verändern. Wir müssen den Menschen helfen, sich selber zu helfen. Wenn die Kinder schreiben und lesen lernen, ist das ein wichtiger Grundstein.»
Die Reise mit dem Bundespräsidenten nach Niger fand vom 7. bis zum 9. Februar 2022 statt. Erst eine Woche später wurde Ignazio Cassis positiv auf Corona getestet.
Jeder Schritt des Bundespräsiden- ten wird von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht. Fährt der Konvoi mit Blaulicht und heulenden Sirenen irgendwo durch, werden die Strassen gesperrt. «Manchmal ist mir das schon etwas zu viel», sagt er. Auch in Bern, wo der Tessiner eine Zweitwohnung hat, wird er immer wieder beim Joggen an der Aare von Bundespolizeibeamten begleitet. «Das gehört einfach zum Job.» Auch für Irène Kälin hat das Jahr als Nationalratspräsidentin viel Neues gebracht, etwa diese offizielle Reise mit dem Bundespräsidenten. «Wir sind politisch nicht immer gleicher Meinung, verstehen uns aber gut», sagt die Grüne. Und: «Ich wusste gar nicht, wie viel Humor er hat.»
Ein Wassermensch
Am Abend steht ein Treffen mit der Umweltministerin an. Garama Saratou Rabiou Inoussa lädt die Gäste aus der Schweiz zu einer Fahrt mit einer Piroge auf dem Niger ein. Der Fluss ist der drittlängste Afrikas. Cassis streckt die Hand ins Wasser: «Kühler als gedacht», sagt er. Auf dem Holzboot kann er kurz durchatmen. «Ich bin ein echter Wassermensch.» Während seines Medizinstudiums lernte er im Zürichsee tauchen. «Ich würde gern mal im Golf von Akaba tauchen gehen.» Er und seine Frau Paola lieben das Reisen. Zu Hause in Montagnola TI stehen Souvenirs aus aller Welt. «An Ferien oder Freizeit ist dieses Jahr allerdings nicht zu denken. Wir haben keine Kinder, das macht es einfacher.»
m letzten Tag geht die Reise ins Landesinnere. In Agadez besucht Cassis ein Zentrum, welches das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) finanziert. Hier bekommen Menschen mit Behinderung Rollstühle oder Prothesen – und eine berufliche Perspektive, sie lernen nähen oder schweissen. Die Schweiz ist mit mehr als 150 Millionen Franken pro Jahr der drittgrösste Geldgeber des IKRK. «Ignazio ist der erste Bundespräsident, der nach Niger reist», freut sich IKRK-Präsident Peter Maurer, 65. «Wir sind sehr froh darüber.»
Etwas Anerkennung
Als Cassis einen Nähraum betritt, hören die Maschinen auf zu rattern. «Dank Ihrer Hilfe können wir in Würde leben», sagt eine der Näherinnen zum hohen Besuch aus der Schweiz. In den letzten Monaten haben die Frauen mehr als 100000 Masken genäht, sich damit Geld verdient und Anerkennung verschafft.
Den Abschluss der Reise bildet eine Audienz beim lokalen Sultan. Dieser ist stolz auf die Moschee, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Cassis steigt im 400 Jahre alten Gebäude aus Lehm das enge Minarett hoch. Dass er unter konstanter Beobachtung steht, wird kurz darauf deutlich: Ein Foto seines Besuchs beim Sultan löst in der Schweiz eine Diskussion über seine verstaubten Schuhe aus.
In Niger hat man andere Probleme.