Das Kleid passt wie angegossen. Als wäre es eigens für sie gemacht worden. Dabei ist es über 100 Jahre alt, geschneidert vor vier Generationen. Noemi Kohler macht kleine, kokette Drehungen; der Rock schwingt und raschelt wie Laub. Das am Kleid befestigte Ghänk – Silberkettchen und Broschen – klickert leise. «So eine Tracht kleidet unverschämt gut», sagt die junge Frau und streicht mit der Hand über Wolle, Samt, Seide und Spitze. «Nicht einen Nähstich musste ich abändern», freut sie sich; wohl ahnend, wie stolz Urgrossmutter Gertrud wäre, die Berner Sonntagstracht – Tschöpli genannt – so passgenau an der Urenkelin zu sehen.
Dann wirft sich Noemi in Pose, keck, aber uneitel, lässt von sich ein Handyfoto schiessen, lädt es hoch auf ihr Instagram-Konto sara_nemi, setzt den Hashtag #swisstradition und pusht das analoge Alte in die digitale Moderne hinaus. Sie sagt es so: «Es geht mir darum, dass wir unsere Schätze wieder viel mehr schätzen.» Dem werden viele ihrer Follower zustimmen und dem Tschöpli-Foto eine Menge Likes bescheren.
Noemi Kohler, 21, aus Wynigen im Emmental zeigt sich auf Social-Media als Jungbotschafterin für Altehrwürdiges, Geerdetes und zeitlos Schönes. Sie interpretiert Historisches erfrischend neu. Noemi ist die Influencerin fürs Trendig-Traditionelle.
«Ich mag wertige Sachen, mit Liebe und Geschick gemacht»
Familie Kohler, die Eltern und zwei Töchter, lebt in einem modernen Mehrfamilienhaus. Doch gleich auf der anderen Strassenseite findet Noemi die Kulisse für ihre Sehnsucht nach Schön-Historischem – das «Haus zum wilden Mann». Ein sandsteinerner Spätbarockbau von 1790 mit zig Zimmern, Kammern, Stübli und einem eigenen Festsaal samt riesigen Leinwandwänden, bemalt im Stile Hodlers.
Hier fühlt sich Noemi wohl. Sie versteht sich gut mit den Hausherren und wandelt in ihrem Tschöpli durch die Szenerie einer vergangenen Zeit, aus der sie selbst zu entstammen scheint. «Mich beschäftigt die Frage: Wo kommen wir her, und was von früher prägt uns bis heute?», sagt sie. «All die kulturellen Teilstücke von hier und einst – Häuser, Kleider, Möbel, Speisen, Musik und Tanz – ergeben doch ein Ganzes und bedeuten unsere Wurzeln.»
Andächtig steigt sie Treppen hoch, streift durch knarrende Flure, schaut in verwinkelte Zimmer und guckt in wellige Spiegel, um den Sitz ihrer schwarzen Samthaube zu überprüfen. «Es ist doch kein Zufall, dass in den letzten Jahren grad auch wir Jungen wieder Gwunder am Traditionellen gefunden haben. Warum sonst boomt der Schwingsport so, besuchen viele eine Stubete, trinken lokales Bier oder lernen Schwyzerörgeli spielen?» Noemi stöbert und gwundert weiter. Überall im Haus Hölzer mit Alterspatina, viel Porzellan, poliertes Kupfer und gerahmte Ölgemälde. Allerlei Sorten Öfen, Möbel, Geschirr, Deko, bullige Küchen und vornehme Bäder, beleuchtet von Lüstern, Laternen und Lampen. Und an der Esstafel im Bankettsääli stehen die gleichen Sessel wie in den Palastszenen der Queen-Elizabeth-Netflix-Serie «The Crown».
«Ich mag wertige Sachen, die seinerzeit mit Liebe, Geschick und der Haltbarkeit einer halben Ewigkeit gefertigt wurden.» So wie ihre Tracht. Sie hebt den Zeigfinger, und ihre Ponyfransen vibrieren. «Mühe habe ich aber, wenn Brauchtum stier und starr ist. Wenn mir ein Reglement vorschreiben will, wie lang der Rock meiner Tracht zu sein hat.» Nein, einzwängen lässt sie sich von der Tradition nicht.
«Wir Jungen sind gwundrig auf unsere Wurzeln. Was von früher prägt uns heute?»
Noemi Kohler ist von Beruf Pferdesportsattlerin; derzeit macht sie eine Zusatzlehre für Feinlederwaren. Es gab eine Zeit, da wollte sie weg, nach England oder Paris. Doch dann merkte sie, dass sie dahin gehört, wo sie herkommt. Sie arbeitet in der Sattlerei Fiona Losinger in Bern. Zu Hause im Keller besitzt sie zudem ein Mini-Atelier, wo sie Zaumzeug, Handtaschen und Gürtel aus Rinds-, Geissen- und Schafleder fertigt. Die Ordnungsliebende hat ihre Siebensachen – Locheisen, Aale, Halbmonde, Kantenfarbe, Lederbalsam und den japanischen Punzierhammer mit dem Regenbogengriff – perfekt ausgerichtet angeordnet.
Ehrensache, ist Noemis eigener Pferdesattel ein besonderes Bjiou, ein rindslederner Dressursattel, den sie sich selbst massangefertigt hat. Mit zehn Jahren nahm sie erste Reitstunden. Am liebsten ist sie mit dem Warmblüter Osco unterwegs, den sie sich in der Reitschule Burgdorf leiht.
Noemi träumt von einer eigenen Sattlerei und einem «Höfli» mit Pferden, Ponys «und unbedingt auch Eseln». Und Bienen natürlich. Seit ihr Grossvater altershalber nicht mehr kann, kümmert sich Noemi um dessen Bienenvölker. Noch als Achtklässlerin besuchte sie den Imkerkurs, lernte den Unterschied zwischen Zucht- und Wirtschaftsvölkern, wie man hegt, pflegt, mit Königinnen umgeht, Honig schleudert und möglichst wenig gestochen wird («im Schnitt siebenmal im Jahr»).
Tracht, Sattlerei, Bienen, ihr Pferd, ein Gespann gar («ich habe das Kutscher-Brevet») – auf Instagram zeigt Noemi, wie sie Tradition und Ursprüngliches neu arrangiert. Und trotzdem sei nicht alles Moderne automatisch besser. «Man sagt sich heute zu rasch Du, das finde ich respektlos; ein gepflegtes Sie hat doch Stil.» Aus dem gleichen Grund zieht sich Noemi für den Ausgang hübsch an. «Locker ist ja gut, aber ein edles Gwand macht doch was her!» Urgrossmutters Tschöpli sowieso. «Ich will damit nicht provozieren; es muss zum Anlass passen.»
«Brauchtum darf nicht stier und starr sein. Einzwängen lasse ich mich nicht»
Sie zeigt ein Foto. Vergilbt und bald 100-jährig. Darauf eine Frau, ja noch fast ein Mädchen, 22-jährig. Noemis Urgrossmutter Gertrud in ebendiesem Tschöpli. «Das Bild ist vom Tag ihrer Verlobung, 1925.» Der zierliche Körper, die adrette Haltung … «Ja, ich sehe ihr ähnlich.» Die Urgrossmutter war für ihre Zeit eine moderne Frau. Tat, was Frauen damals zumeist verwehrt wurde – lernte einen Beruf, Modistin, Hutmacherin. «Ich habe die Liebe zum wertigen Handwerk wohl von ihr geerbt.»
Doch bei aller Nostalgie ist Noemi klar, dass sie heute ganz andere Möglichkeiten hat als ihre Urgrossmutter. «In früheren Zeiten hätte ich mich wohl nicht so entfalten können.» Sie greift nach ihrem Handy und freut sich über die vielen Tschöpli-Likes auf Instagram. «Ich glaube, jetzt ist ein gutes Zeitalter für uns Frauen.»