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Helvetia-Chef Philipp Gmür

«Die Leute müssen sich trauen, zu widersprechen»

Der abtretende Helvetia-Chef Philipp Gmür sagt, welche Risiken er in Zukunft auf uns zukommen sieht. Und erklärt anhand der Kunstsammlung des Konzerns seine Prinzipien als CEO.

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Philipp Gmür, CEO Helvetia Versicherungen

«Die Installation mit 24 500 Perlen in 34 Farben über das ganze Treppenhaus steht für Beständigkeit, Treue und Loyalität.» Kunstwerk: Pipilotti Rist – Aufgeweckter Rosenscheitel

Kurt Reichenbach

Er ist ein Unikum in der Schweizer Business-Welt: Helvetia-CEO Philipp Gmür (60) ist seit 30 Jahren beim gleichen Arbeitgeber – in der schnelllebigen Zeit eine Ausnahme. Dennoch hat der Macher Gmür kontinuierlich Veränderung und Weiterentwicklung des Versicherers vorangetrieben: Der Mann der Mitte-Ständerätin Andrea Gmür (59) und Bruder von Bischof Felix Gmür (57) hat die Helvetia Gruppe zu einem internationalen Player gemacht. In Spanien arbeiten aktuell sogar mehr Leute als im Heimmarkt Schweiz.

Nun ist Schluss: Im Oktober hört Philipp Gmür auf. Dann will er zuerst den Kopf freibekommen für Neues. Mit von ihm ausgewählten Bildern und Installationen am Hauptsitz in Basel schaut er auf seine Karriere zurück.

Philipp Gmür, die Farbdusche aus Tausenden von Plastikperlen von Pipilotti Rist regnet über sämtliche sechs Stockwerke …
… und verbindet diese. Die Installation symbolisiert für mich Beständigkeit, Treue, Loyalität.

30 Jahre im gleichen Business – und das in der langweiligen Versicherungsbranche.
Sie täuschen sich. Die Branche ist faszinierend.

Aber da macht sich doch Routine breit.
Ich habe mir zwar immer wieder Gedanken über Alternativen gemacht. Anfangs konnte ich mir vorstellen, wieder zurück in eine Rechtsanwalts-praxis zu gehen. Aber es kamen stets wieder neue Chancen und Herausforderungen hinzu. Die Versicherungsindustrie und vor allem Helvetia bewegte sich rasant vorwärts – und auch ich konnte mich immer weiterentwickeln.

Was ist heute aktuell?
Angefangen hat Helvetia als Transportversicherung. In all den Jahren haben wir Lösungen für die Absicherung von Risiken wie Feuer, im Verkehr oder bei Arbeitsunfällen gefunden. Aber bei neuartigen Risiken wie Cyber oder Pandemien – haben wir da die Antworten? Oder für ein solid-nachhaltiges Rentenversicherungssystem?

Philipp Gmür, CEO Helvetia Versicherungen

«Schneesport ist auch Teil der Schweizer Identität – deshalb passt Swiss-Ski bestens zu Helvetia.» Kunstwerk: Hermann Scherer – Davoser Landschaft

Kurt Reichenbach

Und?
Wir haben bei der Bewältigung von Corona gesehen, dass die Versicherungsindustrie die finanziellen Risiken einer Pandemie nicht alleine abdecken kann. Gleiches gilt für Schäden aus Cyberangriffen. Wir müssen zusammen mit dem Staat, den Gesundheits- und Sicherheitsbehörden die Risiken mit verstärkter Prävention eingren-zen – und für den Fall der Fälle Lösungen anbieten. Doch da stehen wir erst am Anfang. Die Nachfrage ist viel grösser als das Angebot.

Nicht nur Sie sind eine treue Seele. Im Sponsoring unterstützen Sie seit fast 20 Jahren Swiss-Ski.
Das Versicherungsgeschäft ist ein langfristiges Geschäft. Wir geben Versprechen ab, in 10, 20 oder 50 Jahren Leistungen zu erbringen. Das hat sehr viel mit Vertrauen und mit langjährigen Kundenbeziehungen zu tun. Schweizer Schneesport ist auch Teil der Schweizer Identität, deshalb passt Swiss-Ski sehr gut zu uns. Wir unterstützen aber nicht nur die Spitzenathleten, sondern auch den Nachwuchs und den Breitensport – wir sind Hauptsponsor beim Engadiner Skimarathon. Langfristige Partnerschaften sind wichtig und zahlen sich aus.

Seit zehn Jahren setzen Sie sich auch für Schutzwälder ein.
Zu Beginn in der Schweiz, jetzt im gesamten Alpenraum. Das passt zu unserer DNA. Ein Schutzwald schützt unsere Infrastruktur, unsere Dörfer und Strassen. Das ist beste Prävention. Es ist immer besser, einen Schaden zu verhindern, als dafür zu bezahlen.

Ihr Geschäftsmodell ist breit abgestützt.
Wir haben eine einzigartige Kombination aus Genossenschaft und Kapitalmarkt.

Das müssen Sie erklären.
Die Helvetia-Aktie ist an der Schweizer Börse kotiert. Ein Drittel unserer Aktien hält die Patria Genossenschaft. Als Ankeraktionärin wird sie repräsentiert durch 50 Delegierte aus der ganzen Schweiz. Diese haben eine Langfrist-Optik. Sie schauen dafür, dass die Lebensversicherungskunden in der Schweiz von guten Konditionen und Überschüssen profitieren.

Philipp Gmür, CEO Helvetia Versicherungen

«Die Abzählverse verweisen spielerisch auf die Funktion des VR-Saals, in dem wichtige Findungsprozesse stattfinden und Entscheide gefällt werden.» Kunstwerk: Hans Danuser – Joggeli

Kurt Reichenbach

Wie kam es dazu?
Genossenschaften standen am Ursprung des Versicherungsgeschäfts. Im Schadenfall galt: alle für einen! Diese Solidarität ist heute noch Kern der Versicherungsidee. Mit dem Zusammengehen der börsenkotierten Helvetia in St. Gallen und der genossenschaftlichen Patria in Basel vor etwa 30 Jahren ergab sich diese einmalige Konstellation.

Ist es Ihnen an Sitzungen der Geschäftsleitung oft langweilig?
Weshalb?

Im riesigen Verwaltungsratszimmer hängt flächendeckend eine Installation mit Abzählversen im Stil von «Joggeli söll ga Birli schüttle!».
Das Werk verweist spielerisch auf die Funktion des VR-Saals als einen Ort, an dem wichtige Findungsprozesse stattfinden und massgebliche Entscheidungen gefällt werden.

Führen Sie mit Zuckerbrot – oder mit der Peitsche?
Wir pflegen eine offene Diskussionskultur. Man muss als CEO ein Umfeld schaffen, in dem sich die Leute trauen zu widersprechen.

«Zuerst den Kopf freibekommen für Neues»

Philipp Gmür

Sie haben Feuer in die etwas träge Versicherungsbranche gebracht.
Wir starteten die Zusammenarbeit mit Uni-Instituten, gründeten einen Venture-Fund und veranstalteten Innovationswettbewerbe. Ein grosser Schritt war 2020 der Kauf des spanischen Versicherers Caser. Zudem internationalisieren wir gerade unseren Schweizer Online-Versicherer Smile.

Heute arbeiten in Spanien mehr Leute als in der Schweiz.
Es sind bis 5'000 Menschen – in der Schweiz beschäftigen wir ungefähr 4'000. Doch in Spanien sind mehr als 2000 in Altersheimen, Spitälern und Zahnarztpraxen tätig, die Caser dort selber betreibt. Spanien ist unser zweitwichtigster Markt.

Bei Übernahmen von neuen Firmen besteht auch immer ein Risiko, wie das Beispiel Moneypark zeigt. Was hat nicht funktioniert?
MoneyPark hat uns in dreifacher Hinsicht weitergebracht: Wir wurden der führende Hypothekenbroker in der Schweiz, gewannen neue Fähigkeiten in der technologiebasierten Beratung und neue Kundenzugänge. Die Entwicklung von jungen Firmen verläuft nicht immer gleichmässig und so haben wir bei der Entwicklung von MoneyPark vom Start-up zum KMU viel gelernt. Wir sind aber überzeugt, dass wir mit der jüngst kommunizierten Teilintegration des MoneyPark Vertriebs in unser Vertriebsnetz einen nächsten wichtigen Schritt machen, der grosse Chancen für die Kunden, die Partner von MoneyPark und auch Helvetia bietet.

Gibts bald nur noch ChatGPT und keine Berater mehr?
Wir haben mit Smile den führenden Online-Versicherer in der Schweiz. Wir sehen da sehr viel Potenzial. Aber noch laufen drei Viertel unserer Geschäfte im Schweizer Privatkundengeschäft über Kundenberater.

Will Helvetia auch eine Bank sein?
Ich sehe grosses Potenzial im Asset-Management. Also im Einsammeln und Anlegen von Geld. Unser Vorteil: Wir verkaufen nicht Fantasien, sondern Garantien. Und wir sind sehr nah am Kunden. Wir haben in vielen Ländern Kooperationen mit regional tätigen Banken und bieten Absicherungs- und Vorsorgedienstleistungen, ohne eine Bank sein zu müssen.

In Jean Tinguelys «Cenodoxus» dreht das Rad der Zeit. Was wollen Sie nach 30 Jahren Helvetia machen?
Zuerst den Kopf freibekommen für Neues.

Philipp Gmür, CEO Helvetia Versicherungen

«Tinguelys Werke laden dazu ein, sich und sein Handeln immer wieder infrage zu stellen und von einem anderen Blickwinkel zu betrachten.» Kunstwerk: Jean Tinguely – Cenodoxus Isenheimer Flügelaltar 

Kurt Reichenbach

Wetten, dass Sie mit Ihrer Frau Andrea, die Mitte-Ständerätin ist, bald das neue Power-Couple unter der Bundeshauskuppel sind?
Da liegen Sie falsch. Ich bin zwar ein politisch denkender Mensch. Aber ein Politamt ist kein Thema für mich. Das ist die Aufgabe meiner Frau.

Was dann?
Mehr Zeit für Privates, ich bin sehr vielseitig interessiert. Nun ist die Gelegenheit für Themen, die in der Vergangenheit zu kurz kamen. Reizen würde mich beispielsweise die Fernwanderung vom Bodensee an den Genfersee. Und ganz bestimmt werde ich mehr gemeinsam mit meiner Frau und meinen Freunden unternehmen. Ich treibe gern Sport in der Natur: Ski fahren, biken, seit Kurzem Golf. Und bald gehts wieder auf ein Segelboot. Wenn ich mit Kollegen einen Törn mache, buchen wir allerdings einen Skipper. Ich bin nur Hilfsperson (lacht). Oft bin ich auch im Theater anzutreffen.

Und Sie sind ein «Reisefüdli».
In der Tat. Australien und Neuseeland reizen mich. Und von Südamerika habe ich noch fast nichts gesehen. Die Welt ist so gross, da gibt es noch einiges zu entdecken oder wiederzuentdecken.

Und wie schaffen Sie es nach 30 Jahren, Abstand vom Business zu gewinnen?
Gerade die Werke von Jean Tinguely laden dazu ein, sich und sein Handeln immer wieder infrage zu stellen. Es von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten und Sachen auch zu hinterfragen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich gut damit umgehen kann, eine Rolle nicht mehr zu haben. Nicht mehr der CEO von Helvetia zu sein.

Woher dieser Optimismus?
Jede und jeder ist ersetzbar, und man darf sich nicht zu wichtig nehmen.

Von Max Fischer am 16. September 2023 - 11:30 Uhr