Kilometerlang fressen sich Apartments ins Tal von Puerto Rico. Irina Kalentyeva, 41, und Roger Märki, 59, haben keine Augen für die Bausünden des Massentourismus im Süden Gran Canarias. Ihr Blick ist auf die Strasse gerichtet. Sie macht mit dem Mountainbike Tempo, er ist ihr mit dem Rennrad dicht auf den Fersen. Noch! Doch plötzlich gibt Irina Vollgas. Nach wenigen Kurven ist sie komplett aus Roger Märkis Blickfeld verschwunden.
Seine Frau macht, man muss es sagen, auf dem Velo die bessere Figur. Was allerdings auch kein Wunder ist für eine zweifache Ex-Weltmeisterin im Cross-Country, die an den Olympischen Spielen in Peking die Bronzemedaille gewann. Später trifft sich das Paar auf einen Kaffee wieder, radelt in seine 25 Kilometer entfernte Wohnung zurück und verbringt den Nachmittag am Pool.
Es gibt üblere Trainingscamps. Irina Nikolajewna Kalentyeva kann ein Lied davon singen. Sie wuchs auf einem Bauerndorf 700 Kilometer östlich von Moskau auf. Mit 14 kam die Leichtathletin ins Mountainbike-Kader. «Velos fand ich schon immer cooler.» Seither tritt sie in die Pedalen. Die Begeisterung für den Radsport steht der zierlichen Kämpferin (155 Zentimeter, 45 Kilogramm) ins Gesicht geschrieben. Daran ändert auch der Dreck nichts, der nach jedem Rennen am Körper klebt.
Ihr Lächeln verzauberte Roger Märki trotzdem. «Das erste Mal begegneten wir uns 2011 auf Mallorca.» Seit 40 Jahren unterstützt das Möbelhaus (190 Mitarbeiter, 9 Filialen) den Zweiradsport. Märki offerierte Kalentyeva einen Sponsoringvertrag im MTB Pro Team. Und richtete der Weltcupfahrerin auch gleich ihre Wohnung ein. «Ganz in Weiss» – schwärmt sie. «Roger traf nicht nur meinen Geschmack, sondern auch mein Herz.»
Einst siegte Luzia Zberg als beste Schweizerin für Möbel Märki. Die zweite Frau, der Ähnliches gelang, heiratet Roger Märki im Dezember 2017 auf dem Zivilstandsamt in Lenzburg AG. Kalentyeva, die für Russland fährt, behält ihren Namen: «Märki ist auf meinem Trikot schon genug zu lesen.» Das Paar wohnt im aargauischen Seengen und ist auch privat ein Dream-Team – trotz Altersunterschied von 18 Jahren.
«Wir haben ein gutes Konzept bei der Hausarbeit», scherzt der Unternehmer beim Mittagessen im Bungalow, den sie jeden Frühling für ein paar Wochen mieten. «Irina macht alles und ich den Rest.» Sein Spruch ist nicht ernst gemeint: «Nach der Scheidung führte ich mit meinen Buben Luca und Nicolas jahrelang einen eigenen Haushalt.» Roger Märki stammt aus einer Macher-Familie.
Das erste Möbelgeschäft gründete sein Vater Dölf in einem sieben mal sieben Meter grossen Laden in Aarau. «Mit Gebrauchtmöbeln für Gastarbeiter. Und 2000 Franken Startkapital. Er war ein richtiger Pionier, wie im Wilden Westen. Leider setzte er seine Energie nicht immer positiv ein», sagt der Sohn ohne Bitterkeit. Als das Unternehmen haarscharf am Konkurs vorbeischlitterte, wurde Roger, 33-jährig, in die Geschäftsleitung katapultiert. «Den Turnaround schafften wir nur dank unseren Mitarbeitern.»
Wann immer möglich, nimmt sich Märki Zeit, seine Frau beim Mountainbike-Training auf Gran Canaria zu begleiten. Die Gegend kennt er seit 40 Jahren. «Das Wetter ist beständiger als auf Mallorca. Und die Insel besser als ihr Ruf.» Eine Immobilie wollte er hier nie kaufen. «Ich habe in Falera im Bündnerland schon eine Ferienwohnung, in die ich fast nie gehe.» Irina schätzt die Unterstützung ihres Mannes.
Gemeinsam besuchen sie auch ihre betagten Eltern in Tscheboksary. Sie sei eine sehr emotionale Person, sagt sie fast entschuldigend und in nahezu perfektem Deutsch. «Ich habe eine russische Seele.» Den eigenen Kinderwunsch ordnete sie ihrer Karriere unter. Die erfolgreichste Weltcupfahrerin Russlands wird in ihrer Heimat wie ein Idol gefeiert. «Ich bereue das nicht. Der Sport schenkte mir viele unbezahlbare Höhepunkte.»
Dass die Saison des Möbel Märki MTB Pro Teams für Irina holprig startet, wurmt sie. Momentan steht die Ü-40erin auf Platz 49 der Weltrangliste, das Team auf dem sensationellen 6. Platz. 2019 mit am Start: Fabienne Schaus (Luxemburg), Gregor Raggl und Karl Markt (Österreich), Matthias Stirnemann und Nicole Koller (Schweiz). Nächstes Ziel: die WM in Kanada «Die Atmosphäre ist unglaublich. Die Zuschauer feuern uns Athleten an und rasten fast aus. Ich kann das kaum in Worte fassen.»
Die Gefahr fährt immer mit. An der Olympiade in Rio de Janeiro stürzt Irina im Training, fährt das Rennen mit gebrochenem Daumen zu Ende. «Ich konnte kaum schalten und bremsen.» Trotz passablem 17. Rang ist ihre Laune im Keller. Verständlich: Vier Jahre lang trainiert sie für den Anlass. Fast noch schlimmer ergeht es ihr an den Spielen in London. Mit 30 Sekunden Rückstand landet sie auf dem undankbaren vierten Rang. «Danach hätte ich nur noch heulen können.»
Ob sie an den Olympischen Spielen 2020 in Tokio ein letztes Mal antritt, steht (noch) in den Sternen. Irina Kalentyeva muss niemandem mehr etwas beweisen. Statt zehn Monate Training könnte sie mit ihrem Mann Roger Märki das Dolce Vita geniessen. Dennoch schnappt sie sich ihr 15 000-Franken-Bike im Eingang. Magisches Abendlicht färbt die Erde von Gran Canaria rot. Der Rücktritt kann warten.