Es ist ihr grosses Jahr. Wenige Wochen nach Gold bei den Olympischen Spielen in Paris geht für Sportschützin Chiara Leone (26) ein zweiter Traum in Erfüllung: Sie reist für mehrere Wochen durch Südamerika, lernt Länder und Leute kennen. Drei Wochen lang besucht sie zudem eine Sprachschule, um ihr Spanisch zu verbessern. Den Trip plant sie schon seit langer Zeit – noch bevor überhaupt klar ist, dass sie an Olympia teilnehmen wird.
Der Zeitpunkt ist ungewollt perfekt: «Ich erhielt nach Paris viel Aufmerksamkeit der Medien, machte vieles mit.» Ein bisschen mehr als geplant sogar. «Ich wusste, ich komme danach zu einer Pause.» Die Reise im Hinterkopf habe ihr auch in Paris eine gewisse Ruhe gegeben. Dennoch prasseln viele Ansprüche auf die Olympiaheldin ein. Bei Leones Gold-Vorgängerin Nina Christen (30) führte dies nach dem Sieg 2021 in Tokio sogar zu veritablen Depressionen und Rücktrittsgedanken. Chiara Leone ist gewarnt. Und stellt fest: «Die Reise hat mir sicher auch geholfen, nicht in ein Loch zu fallen.»
Olympiasieg sorgt für Aufregung
Anfang September fliegt die junge Aargauerin nach Quito, in die Hauptstadt Ecuadors. Sie verbringt ein paar Tage dort, ehe sie weiterreist nach Montañita. Das Dorf im Westen des Landes liegt direkt am Meer. In dem Ort, der sich in den vergangenen Jahren vom Fischerdorf zum Hotspot für Surfer und Rucksacktouristen gemausert hat, lebt Chiara Leone zwei Wochen bei einer Gastfamilie. Sie besucht eine Sprachschule – ohne jegliche Spanischkenntnisse, wie sie lachend erzählt. «Ich spreche bereits Italienisch und Französisch. Das hat mir geholfen, mich zu verständigen. Englisch spricht in Montañita kaum jemand.»
«Hier ist alles anders, viel einfacher», schildert sie. «Die Häuser haben Risse in der Wand. Niemand arbeitet ausserhalb des Dorfs, die nächste Stadt liegt anderthalb Busfahrstunden entfernt. Schon ein Arzttermin ist eine grosse Reise.» Zudem sei es üblich, dass mehrere Generationen unter einem Dach lebten. «Ich wohnte bei einer älteren Frau und deren Tochter mit Familie», sagt Chiara Leone. «Es war interessant, so deren Alltag zu entdecken.» Im September sind die Surftouristen weg, Montañita wirkt wie ausgestorben. «Wir waren nur zu zweit im Unterricht», sagt Leone. «So konnte ich natürlich enorm profitieren.»
Die grösste Aufregung in Montañita: «Als herauskam, dass ich Olympiasiegerin bin.» Chiara Leone lacht. «Irgendwann kommt man auf den Beruf zu sprechen, und ich hätte mir schon einen anderen Job ausdenken können. Aber die Wahrheit war einfacher. Ein Highlight für die Familie, das auch die Runde durch das Dorf gemacht hat.» Später geht die Reise nach Kolumbien. Für zwei Tage in die Hauptstadt Bogotà, dann weiter nach Minca in ein Hostel im Wald.
Ruhe und Abgeschiedenheit mag die Olympiasiegerin. Durchatmen. Erden. Sie reist bewusst allein. «Ich lerne aber überall immer wieder neue Leute kennen. Vor allem an den Sprachschulen, wo man auch mehr Zeit miteinander verbringt, lernt man sich besser kennen.» Den einen oder anderen Kontakt möchte sie weiter pflegen. «Wenn das möglich ist. Wir kommen aus ganz anderen Ecken der Welt.»
Schon lange auf der Bucketlist
Dass sie gern Südamerika bereist, weiss Chiara Leone schon lange. «Ich war schon mehrmals in Rio de Janeiro. Mir hat das Leben dort sehr gut gefallen. Und auch die Menschen des Kontinents, die ich aus dem Schiesssport kenne, haben eine gute Einstellung zum Leben. In Europa dreht sich viel um die Arbeit, das Geldverdienen. Hier ist das Leben auch mit nur ein paar Franken am Tag gut. Alles ist lockerer.»
«Ich hatte über zwei Monate lang kein Gewehr in der Hand. Jetzt freue ich mich aufs Training»
Chiara Leone
Die Sprachschule hat sie spontan dazugebucht. «Ich dachte, es macht Spass, etwas Neues zu lernen. Ich habe das seit der Schule nicht mehr getan. Und es war definitiv die richtige Entscheidung.» Im weiteren Reiseverlauf gehts nach Cartagena an der kolumbianischen Karibikküste. Hier besucht Chiara Leone noch einmal für eine Woche eine Sprachschule, lebt in einer Studentenwohnung. Danach, als Abschluss und Höhepunkt ihres Trips, wandert die 26-Jährige vier Tage zur sagenumwobenen Ciudad Perdida, der verlorenen Stadt.
Der Ruinenort im Norden Kolumbiens wurde erst 1972 wiederentdeckt und zählt neben Machu Picchu zu den grössten präkolumbischen Städten Südamerikas. «Das war wirklich das Highlight», erinnert sie sich. Ohne Handyempfang wandert sie auf Pfaden der Ureinwohner, die sie unterwegs auch trifft, durch den Regenwald, schläft in einfachen Unterkünften. «Es war einmalig, ich war auch mit einer richtig tollen Gruppe unterwegs und hatte eine gute Zeit mit diesen Menschen.» Auch über die Stadt und die Kultur habe sie sehr viel gelernt, erzählt Chiara Leone.
Nun freut sich Leone wieder auf ihren Alltag in der Schweiz. «Im Schiesssport haben wir nie lange Pausen. Mal paar einzelne Tage zwischendurch, da wir das ganze Jahr über Saison haben.» Ihr Sportgerät hat sie seit über zwei Monaten nicht mehr angefasst. «Das kam noch nie vor. Am Anfang habe ich es nicht vermisst. Aber jetzt freue ich mich wieder auf das Training.» Und auf alles, was auf eine frischgebackene Olympiasiegerin sonst noch wartet. «Es sind tolle Sachen angelaufen, der Sieg hat mich bekannter gemacht. Ich erhalte viele Einladungen zu Events, Ehrungen, dem Superzehnkampf. Ich kanns kaum erwarten!» Das Loch wird auch nach ihrer Rückkehr nicht kommen.