In Unterterzen, diesem beschaulichen Dorf am Walensee, beginnt der Tag mit drei kleineren Katastrophen. Da ist erstens das Wetter: Der Himmel hängt wie ein feuchter Lumpen über den Churfirsten. Ziemlich ungünstige Bedingungen für die rund 160 Leserinnen und Leser der Schweizer Illustrierten und von «L’illustré», die gleich eine Wanderung mit FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter (58) antreten wollen.
SI-Leser Fabrice Collaud (49) hat ganz andere Sorgen. Oder um es in seinen Worten zu sagen: «C’est une C-A-T-A-S-T-R-O-P-H-E.» Der Freiburger ist extra mit dem Auto nach Unterterzen gereist, weil er ein Geschenk für die Bundesrätin im Gepäck hat. Aber noch bevor er ihr Biskuits und Birnenschnaps aushändigen kann, winken die Sicherheitsmänner ab: (noch) nicht jetzt!
Auch Karin Keller-Sutter selbst erlebt, kurz bevor es losgeht, einen Schreckmoment. Als sie in Unterterzen in ihre Wanderschuhe schlüpft und ein paar Schritte macht, löst sich – schwups – die Sohle ab.
Die Wolken verziehen sich just, als die Wandernden in Unterterzen das Schiff nach Quinten besteigen. Und Karin Keller-Sutter hat noch ein Paar Ersatzschuhe im Auto.
«Es fühlte sich an, als würde ich mit einer Kollegin wandern.»
SI-Leserin Bettina SChmid
Es ist bereits das fünfte Mal, dass die Schweizer Illustrierte und «L’illusté» zu einer 1.-August-Wanderung mit einem Mitglied des Bundesrats einladen. Nach Alain Berset (50), Guy Parmelin (62), Viola Amherd (60) und Simonetta Sommaruga (62) führt dieses Mal die Justizministerin gemeinsam mit Ehemann Morten Keller (57) in ihre Heimat: nach St. Gallen. In Wil aufgewachsen, hat Keller- Sutter für die 1.-August-Wanderung den Süden des Kantons ausgesucht. Der Marsch von Quinten nach Betlis sei eine klassische Schulreise, sagt sie. «Ich habe sie als Kind mehrmals gemacht.»
Die Strecke hat es in sich. Der fast dreistündige Marsch entlang des Walensees führt 300 Meter rauf und dann wieder runter. Für die Wandernden heisst das: durch sonnige Rebberge und schattige Wälder streifen, aber auch immer wieder verschnaufen und darüber fluchen, dass man die Wanderstöcke zu Hause vergessen hat. «Bei Parmelin wars weniger anstrengend», keucht ein Leser, «weniger laufen, mehr trinken.» Aber es gehe ja am Ende ums Dabeisein, egal ob Waadtland oder Walensee. Das sehen auch andere SI-Leserinnen und -Leser so: Viele von ihnen sind zum wiederholten Mal dabei. Weil sie ein unbekanntes Stück Schweiz entdecken wollen, weil die Gipfeli auf der Car-Hinfahrt so lecker sind und natürlich weil sie die Gelegenheit haben, einem Mitglied der Landesregierung auf Augenhöhe zu begegnen.
Eine, die das Gespräch sucht, ist Bettina Schmid, 56, aus Zürich: «Zuerst war ich extrem nervös, aber dann hat es sich angefühlt, als würde ich mit einer Kollegin wandern.» Für Karin Keller-Sutter ist die Wanderung eine angenehme Abwechslung vom dichten Arbeitsalltag. Kaum je stand der Bundesrat vor so vielen Krisen in kurzer Zeit. Kaum je wurde er mehr kritisiert. Darauf angesprochen, sagt Karin Keller-Sutter: «Der Bundesrat funktioniert besser, als das von aussen wahrgenommen wird. Die gemeinsame Suche nach Lösungen ist nicht immer spannungsfrei, aber im Sinne der Sache.»
Doch heute heisst es für sie erst einmal: abschalten. «In der Natur gelingt mir das gut», sagt sie und fügt an: «Wenn ich mit meinem Mann frühmorgens durch den Wald laufe, komme ich oft auf Lösungen, nach denen ich gar nicht angestrengt gesucht habe.»
Mit Morten Keller ist die Bundesrätin seit 33 Jahren verheiratet. Der Mediziner leitet die Städtischen Gesundheitsdienste Zürich und besucht seine Frau mehrmals wöchentlich in Bern. Die Wochenenden verbringt das Paar in Wil. «Wir sind sehr eingespielt», sagt Keller-Sutter, «Morten merkt sofort, wenn mir nach einem langen Tag nicht mehr zum Reden zumute ist.» Dass da zwei wie Zahnräder ineinandergreifen, bestätigt sich auch beim Wandern: Mal wandern sie nebeneinander, mal hintereinander, mal lachen sie, mal tauschen sie flüsternd ein paar ernste Worte aus. Morten Keller kann nicht bestätigen, was Silvia Blocher (77), die Frau von alt Bundesrat Christoph Blocher (81), kürzlich in einem Interview zu Protokoll gab: «Als Frau des Bundesrats sind Sie überflüssig, umgekehrt als Mann auch.» Er sagt: «Ich teile Karins Leben und sie meins.» Das Amt einer Bundesrätin sei ein 24-Stunden-Job. «Aber weil ich sie schon als Regierungsrätin erlebt hatte, war ich bestens darauf vorbereitet.»
«In der Natur werden grosse Probleme ganz klein.»
Bundesrätin Karin Keller-Sutter
Ein 24-Stunden-Job, in der Tat. Die Probleme, die Keller-Sutter in Bern beschäftigen, ploppen auch auf der 1.-August-Wanderung immer wieder auf. Etwa dann, als die Bundesrätin mit Pylyp (33) und Anastasiia (18) ins Gespräch kommt. Die beiden sind Ende März aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet und leben nun bei einer Gastfamilie in Greyerz FR. Keller-Sutter will wissen, wie es ihren Familien geht. Und Pylyp wird später sagen, er finde es sehr aussergewöhnlich, einer Bundesrätin so nahe zu kommen. Aber so ist das beim Wandern. Alle sind gleich. Darum steht die Magistratin auf dem Bauernhof der Familie Zahner in Betlis auch nicht als Erste am Buffet. Obwohl der vom Schweizer Bauernverband offerierte Zmorge mit Rösti und Spiegeleiern keine Wünsche offen lässt.
Als Karin Keller-Sutter nach dem Essen zu ihrer Rede ansetzt, schieben sich – passend zum Thema – erneut Wolken vor die Sonne. Die Bundesrätin sagt, der Angriff Russlands habe gezeigt: «Die Freiheit in Europa ist wieder in Gefahr.» Darum müsse jeder und jede sie verteidigen, an jedem einzelnen Tag. Dann mahnen die Wanderleiter auch schon zum Aufbruch. Es braut sich was zusammen über dem Walensee. Jetzt aber hurtig zum Ufer, wo schon das Schiff nach Unterterzen wartet. Und so endet dieser Tag mit drei Glanzlichtern.
«Gemeinsam essen und trinken – das hält uns zusammen.»
Nationalrat Markus Ritter
Karin Keller-Sutter ist trotz fehlenden Wanderschuhen und rutschigem Terrain heil ans Ziel gelangt. Leser Fabrice Collaud durfte ihr, zurück in Unterterzen, doch noch sein Geschenk überreichen. Und die SI-Leserinnen und-Leser? Sie fuhren mit der Gondelbahn einmal auf den Flumserberg und retour, Apéroplättli inklusive. Im Trockenen sitzen, aber nicht auf dem Trockenen – was will man mehr.