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Flüchtlingshilfe-Direktorin Miriam Behrens

«Die Solidarität der Schweizer ist gross»

Willkommenskultur in der Schweiz: Viele Menschen wollen die Flüchtenden aus dem Ukraine-Krieg unterstützen. Direktorin Miriam Behrens von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist nah dran und rät: «Bitte nicht selber an den Bahnhof gehen!»

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Miriam Behrens, Direktorin Schweizer Flüchtlingshilfe

«Wir sollten darauf vorbereitet sein, dass mehrere Tausend Menschen pro Monat zu uns kommen», sagt Miriam Behrens, 56. 

Kurt Reichenbach

Frau Behrens, was denken Sie, wenn Sie die Bilder aus der Ukraine sehen?
Die Situation löst grosse Betroffenheit aus – wie die Menschen leiden und die Zivilgesellschaft zur Zielscheibe wird, wie die russische Armee vor nichts zurückschreckt. Die Bilder aus Kriegen sind auf schockierende Weise vergleichbar. Was sich in der Ukraine abspielt, erlebten wir zuvor an Schauplätzen wie Tschetschenien oder Syrien. Dass es zur Eskalation gekommen ist, überrascht mich nicht. Wir hatten die Ukraine in unserer Länderanalyse schon lange als Krisenregion auf dem Radar. Aber mit dem brutalen russischen Angriffskrieg hätten wir nicht gerechnet. 

Das Leiden der Menschen ist kaum in Worte zu fassen, die Verzweiflung macht sprachlos.
Das ist leider in anderen Kriegen genauso. Es sind immer Gesichter wie du und ich. Doch diesmal ist der Konflikt geografisch viel näher bei uns. Er findet in Europa und in den sozialen Medien statt – wir können ihn quasi live verfolgen. Es gibt viele Schweizerinnen und Schweizer, die einen Bezug zur Ukraine haben. Sie waren schon dort in den Ferien – oder kennen Menschen von dort. 

«Gastfamilien müssen mit grossen Emotionen rechnen. Viele Geflüchtete werden psychologische Hilfe brauchen»

Was unterscheidet diesen Krieg von anderen?
Die unmittelbare Betroffenheit der Schweizer ist stärker spürbar. Viele haben zudem noch Erinnerungen an den Eisernen Vorhang. Der Konflikt ist näher bei uns und unserer Geschichte. Nach unserem Verständnis war die Solidarität der Schweizer aber immer gross – auch beim Syrienkrieg. Und wir haben früher auch Boatpeople
aus Vietnam aufgenommen und Flüchtlinge aus Tibet. Es ist nicht so, dass die Schweizer Solidarität auf Europa beschränkt ist. Aber die politischen Entscheide sind nicht dieselben.

Sie sprechen Afghanistan an?
Genau. Da gab es keine Bereitschaft, Flüchtende aufzunehmen. Damals kam das politische Signal sofort, dass man Hilfe vor Ort leistet, aber keine Flüchtenden unbürokratisch aufnimmt. Es wurde keine sogenannte Umsiedlungspolitik in die Schweiz verfolgt – dabei wird in Zusammenarbeit mit dem Uno-Flüchtlingshilfswerk eine Vorselektion vorgenommen. Anerkannte Flüchtlinge können dann nach Überprüfung durch den Nachrichtendienst sicher einreisen und hier ein neues Leben beginnen. Nun ist das ganz anders, die Flüchtenden erhalten den Schutzstatus S. Der Unterschied zu Afghanistan ist ausserdem, dass die Menschen aus der Ukraine auf dem Landweg zu uns kommen, ohne Visum einreisen und die öffentlichen Verkehrsmittel gratis benutzen dürfen – und teilweise auch Geld dabei haben. 

Miriam Behrens, Direktorin Schweizer Flüchtlingshilfe

Seit sechs Jahren steht die 56-Jährige der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vor. Sie überlegt sich, Flüchtende aufzunehmen, gerade zieht ihr Sohn aus. Aber: «Die Arbeitsbelastung ist zu gross. Ich möchte da sein, wenn jemand zu uns kommt.»

Kurt Reichenbach

Schaffen wir so nicht eine Zweiklassengesellschaft unter den Flüchtenden?
Doch. Grundsätzlich sind wir froh, dass mit dem Status S ein einfacher und pragmatischer Weg für die Aufnahme existiert. Die vorgesehenen Sprachkurse begrüssen wir ebenfalls, auch wenn es aus unserer Sicht noch weiter gehende Integrationsmassnahmen braucht. Aber eine solche Offenheit wünschen wir uns natürlich auch bei Geflüchteten, die den Status der vorläufigen Aufnahme erhalten – also beispielsweise Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Das aktuelle Beispiel zeigt, was möglich wird, wenn der politische Wille vorhanden ist. 

Gibt es bei dieser Flüchtlingswelle historische Vergleiche?
Budapest 1956 oder Prag 1968 waren wohl ähnliche Ereignisse, wie auch die Jugoslawienkriege in jüngerer Vergangenheit. Diesmal ist es näher: Die Menschen müssen nicht erst nach Europa kommen. Die Grenzen und die Fluchtrouten sind offen. Die Flüchtenden haben jene Reisefreiheit, die beispielsweise Menschen aus Afghanistan oder Syrien fehlt. 

Wie erklären Sie sich die Willkommenskultur der Schweiz?
Bei der Syrienkrise hatten wir die ursprünglich auch. Ich erinnere an Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem legendären Satz: «Wir schaffen das.» Erst nach einer gewissen Zeit kippte die Stimmung. Die Schweizer Bevölkerung ist im Grundsatz solidarisch und humanitär. Selbstverständlich gibt es Bevölkerungsgruppen, die zurückhaltender oder ausgrenzender sind. Aber die Mehrheit der Schweizer ist solidarisch.

Mit wie vielen Flüchtenden rechnen Sie?
Drei Millionen Menschen haben die Ukraine bereits verlassen. Grossmehrheitlich befinden die sich in den Nachbarländern – allein in Polen sind es über 1,5 Millionen. Viele warten in diesen Ländern darauf, dass sie wieder nach Hause können. Der Schutzstatus S geht auch von diesem Gedanken aus – dass die Menschen vorübergehend bei uns bleiben und dass der Krieg nicht nur beendet wird, sondern dass die Ukraine danach auch noch existiert. Wir sollten aber darauf vorbereitet sein, dass mehrere Tausend Menschen pro Monat zu uns kommen – wenn nicht sogar mehrere Tausend pro Woche.

In welchem Zustand erreichen die Flüchtenden unser Land?
Sehr unterschiedlich. Während der Flucht funktionieren viele Menschen wie automatisch. Sobald sie ankommen und der Adrenalinspiegel sinkt, bricht es aus ihnen heraus. Wir sagen deshalb den Gastfamilien, dass sie mit grossen Emotionen rechnen müssen. Viele Geflüchtete werden Traumataberatung und psychologische Hilfe brauchen. Das müssen Bund und Kantone gewährleisten können. 

Eignen sich alle Menschen, um Flüchtlinge aufzunehmen?
Die Frage ist eher: Eignen sich alle Unterkünfte? Gastfamilien sollten sich für eine Mindestdauer von drei Monaten verpflichten. Die Flüchtenden sind entwurzelt. Da wäre es schlecht, wenn sie nach zwei Wochen schon wieder weitermüssten. Wir wollen auch, dass es Rückzugsmöglichkeiten und eigene Räume gibt – nicht einen Kellerraum oder eine Liege im Wohnzimmer. Gewünscht sind eine minimale Begleitung der Gäste und Hilfestellung in Alltagsfragen. Selbstverständlich müssen die Gastfamilien und ihre Gäste einen professionellen Ansprechpartner haben. Das wird derzeit mit Kantonen und Hilfswerken aufgebaut. Wir gehen bis dahin auf Hausbesuche, unterhalten eine Hotline und stellen den Gastfamilien und ihren Gästen Infoblätter zu. Darauf sind alle wichtigen Kontakte wie medizinische oder psychologische Betreuung ersichtlich.

Macht es Sinn, auf eigene Initiative an den Bahnhof zu gehen und Hilfe anzubieten?
Auf keinen Fall. Bitte nicht! Das ist gefährlich – für alle Beteiligten. Es gibt leider immer noch viele Personen, die vom Leid anderer profitieren wollen: Menschenhändler, Schlepper, Zuhälter. Deshalb mein dringender Appell an alle Flüchtenden: Wendet euch ans Bundesasylzentrum, lasst euch registrieren – und wir finden eine Gastfamilie. Aber geht auf keinen Fall mit Fremden mit! 

Es kommen vor allem Frauen mit Kindern. Das verschärft diese Gefahr …
… leider. Aber wir schauen genau hin – und die Behörden sind nah dran. 

Letztlich ist das ganze Leid von einem einzigen Mann entfacht. Was würden Sie Wladimir Putin sagen?
Aufhören. Sofort aufhören! Etwas anderes kommt mir nicht in den Sinn.

Und was sagen Sie dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski? Müsste er kapitulieren?
Nein, das glaub ich nicht. Wir verspüren alle eine gewisse Bewunderung für ihn. Aber diese gilt der ganzen ukrainischen Bevölkerung. Viele denken, dass die Menschen weiterkämpfen würden, selbst dann, wenn Selenski nicht mehr da wäre. 

Was wünschen Sie sich persönlich?
Die letzten zwei Jahre waren furchtbar: Syrien, Afghanistan, Corona im Flüchtlingswesen. Deshalb wünsche ich mir vor allem etwas: dass uns bei der Flüchtlingshilfe die Arbeit ausgeht

Von Thomas Renggli am 19. März 2022 - 08:09 Uhr