An diesem Samstag, dem 7. Oktober, ist Jochi Weil im jüdischen Gemeindezentrum an der Lavaterstrasse in Zürich. Am Abend beginnt das Freudenfest Simchat Tora – das heilige Buch der Juden wird im Lauf eines Jahres komplett vorgelesen, Simchat Tora beendet den Zyklus. Plötzlich treffen die ersten Meldungen über die Massaker in Israel ein, die Anwesenden werden mit den Gräueltaten der palästinensischen Terrormiliz Hamas konfrontiert.
Der 81-jährige Jochi hört die Worte, versteht die Sätze, aber richtig einsickern, richtig fassbar werden sie erst mehr als eine Woche später.
«Seit drei, vier Tagen habe ich Albträume, erwache und fühle Trostlosigkeit», erzählt der 81-Jährige. Die Morde, Vergewaltigungen, Abschlachtungen sind von derartiger Brutalität, dass die ganze Welt in Unglauben und Schrecken erstarrt. Menschen wie Jochi Weil und seine Frau Anjuska (77) erst recht: Beide engagieren sich seit über 40 Jahren für ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern.
Der Landstrich zwischen Jordan und Mittelmeer mit der Stadt Jerusalem, die gleich allen drei Weltreligionen als heilige Stätte gilt, war immer ein umkämpftes Gebiet. Nach dem Holocaust, der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch das Hitlerregime, teilt die Uno das Gebiet in einen jüdischen und einen palästinensischen Teil. 1948 wird der Staat Israel ausgerufen, die geschundenen Menschen sollten einen Ort erhalten, an dem sie sicher sind.
Was auf dem Papier als gerechte Lösung scheint, hält der Realität nicht stand: Rund 700000 Palästinenser werden damals vertrieben, die arabischen Nachbarn führen Kriege gegen den jungen Staat.
Durch jüdische Siedlungen wird den Palästinensern immer mehr Land weggenommen, diese wehren sich mit Attentaten und zwei Intifadas – kriegerischen Aufständen. Die Gewaltspirale dreht und dreht.
Manchmal scheint es, als gäbe es eine Lösung, als sei ein friedliches Zusammenleben möglich, doch alle Anstrengungen scheitern. Ein ums andere Mal.
«Die Stimmen des Friedens sind immer leise», beschreibt Jochi Weil die Realität im Nahen Osten. Extremismus hingegen ist laut, schafft Fakten, nicht zum Guten, sondern zum Schlechten.
Anjuska und Jochi haben 2001 den Verein Kampagne Olivenöl aus Palästina mitgegründet, Jochi engagiert sich unter anderem bei Medico International Schweiz, der «medizinischen Brücke» zweier NGOs aus Israel und Palästina. «Unter medizinischem Personal und Patientinnen und Patienten entsteht so etwas wie Frieden», so Jochi. «Seit Jahrzehnten bauen wir Brücklein, und ich glaube fest daran, dass sie halten. Unsere Arbeit bewegt sich im Nanometer-Bereich.»
Er und Anjuska Weil machen jeden Monat in Zürich bei der Mahnwache «für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina» mit. «Fahnen sind verboten, wir sind da für den Frieden und nicht für ein Land.» Letzte Woche wurde die Mahnwache verboten, zu aufgeladen ist die Situation im Moment. «Das ist o. k., wir haben das selbstverständlich akzeptiert.»
Jetzt werden diese Berührungspunkte zu Palästina plötzlich in anderem Licht gesehen. «Und nun, was sagst du nun?», fragt ihn ein Bekannter nach den furchtbaren Hamas-Morden, erzählt Jochi. «Ich mache weiter, was soll ich sonst tun?
Die Hamas muss unschädlich gemacht werden. Aber die Palästinenserinnen und Palästinenser, die im Gazastreifen fliehen, sind doch Menschen wie du und ich, sie sind nicht die Hamas», antwortet er.
Und die israelischen Geiseln, die als menschliche Schutzschilde eingesetzt werden, die muss man doch mit Gewalt befreien, will man sofort einwenden – und sieht Jochi und Anjuska, die um Worte ringen. «Ja, unbedingt, das ist doch selbstverständlich. Die internationale Gemeinschaft muss helfen, das IKRK beispielsweise weiss, wie man Gefangenenaustausche organisiert. Und es gibt Tausende palästinensischer Administrativhäftlinge», sagt Anjuska.
Sie weiss, es ist heikel, nach den Untaten der Hamas Mitgefühl gegenüber den Palästinensern zu fordern. «Das eine Unrecht kann nicht mit anderem Unrecht vergolten werden.» Der Satz steht im Raum, tonnenschwer.
Für die Juden ist es der Holocaust, für die Palästinenser ist es die Nakba, die Vertreibung. Traumata der ganzen Bevölkerung, die von Generation zu Generation weitergegeben und durch neues Leid immer wieder genährt werden.
Für die Israelis hat sich der Glaube an einen sicheren Ort als Trugschluss erwiesen. Seit dem 7. Oktober ist endgültig klar: Es gibt keinen sicheren Ort. «Die Traumata sind da und es kommen mit jeder Kriegshandlung neue dazu», erklärt Anjuska Weil. Sie erzählt von einem kleinen palästinensischen Jungen, der nur Panzer und Strichmännli gezeichnet habe, Kinder, die tot vor den Panzern liegen.
Und Jochi erinnert an seine Mutter, die zwei Schwestern im Holocaust verlor und diese Last ein Leben lang mit sich trug. «Das hat auch mich beeinflusst. Die Traumata gehen an die Kinder weiter.»
In jungen Jahren leben Jochi und Anjuska während fast drei Monaten im Kibbuz Magen, im Süden Israels, nahe der Grenze zum Gazastreifen. Jochi: «Ich war Mitglied der sozialistisch- zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair. Für mich war Israel das gelobte Land, der sozialistische Kibbuz das Leben, das ich mir vorstellte.»
Anjuska hatte mit ihren Eltern als kleines Kind in Wadi al-Jimal, heute Ein HaYam, in der Nähe von Haifa gelebt. «Wir hatten palästinensische Nachbarn und hatten ein schönes Verhältnis. Für mich war die Trennung zwischen Israelis und Palästinensern etwas völlig Unnatürliches.» Der Sozialismus schien die Lösung für ein friedliches Zusammenleben zu sein.
Doch der Kibbuz war es nicht, zu stark trat auch dort der Hass zwischen den beiden Völkern zutage. Den Kibbuz verliessen sie, den Glauben an den Sozialismus behielten sie. Der Linken wird nun vorgeworfen, naiv zu sein, sich mit Terroristen zu verbrüdern. «Blödsinn», sagt Anjuska Weil. «Wir kämpfen für Gerechtigkeit, gleiche Chancen und gleiche Rechte.»
Dreh keinem Araber den Rücken zu, laute ein Satz, den man oft höre. «Alle Araber können doch nicht böse sein», ereifert sich Jochi. Und überhaupt: Was man beim anderen als Böses entdecke, sei oft nur die dunkle Seite, die man in sich selber trage. «Ich bin ein Jude durch und durch. Meine Identität und meine Verbundenheit mit Israel sind gross. Gerade deshalb kann ich den Palästinensern mit Empathie begegnen.»
Irgendwann werde auch der jetzige Krieg vorbei sein. «Was dann?», fragt er. «Es wird wieder Menschen brauchen, die einander vertrauen, die es miteinander können.» Und Anjuska fügt an: «Teilen kann heissen, etwas entzweischneiden. Aber auch, dass wir etwas gemeinsam nutzen.»
Die Stimmung ist gedrückt, das Ehepaar, das sein ganzes Leben in Projekte zur Verständigung und zur Aussöhnung steckte, weiss, dass es im Nahen Osten für lange Zeit keine Lösung geben wird. «Analytisch sehe ich keinen Ausweg», sagt Jochi Weil.
Aber wenn er zurückblicke, müsse er sagen, es habe sich alles gelohnt, die Brücklein würden hoffentlich halten. «Und es lohnt sich auch jetzt.»
Anjuska formuliert es so: «Jeder Kontakt ist ein kleiner Riss in der Mauer des Hasses.»